Digitale Versorgungsinnovation mit signifikanten Nutzen für die Zukunftsregion Digitale Gesundheit (ZDG)

Die Zukunftsregion Digitale Gesundheit (ZDG) ist eine bis Ende 2022 projektierte Initiative des Bundesgesundheitsministeriums

Dieses Video erklärt Ärztinnen und Ärzten, wie sie die Migräne-App der Schmerzklinik Kiel und der Techniker Krankenkasse im professionellen Versorgungsgeschehen einsetzen und die aggregierten Versorgungsanalysen für eine zeitgemäße Therapieanpassung interpretieren können. Der Film ist insbesondere als Schulungsfilm für den Einsatz der Migräne-App in der Zukunftsregion Digitale Gesundheit (ZDG) konzipiert. Die Zukunftsregion Digitale Gesundheit ist eine bis Ende 2022 projektierte Initiative des Bundesgesundheitsministeriums. Ziel der Zukunftsregion Digitale Gesundheit ist, digitale Versorgungslösungen in der Testregion Berlin in eine stärkere Praxisanwendung zu bringen. Zudem sollen Erkenntnisse über den Einsatz digitaler Versorgungsanwendungen im deutschen Gesundheitswesen gewonnen werden. Weitergehende Informationen zum Aufbau der Zukunftsregion finden Sie hier.

Für den Erfolg der Zukunftsregion Digitale Gesundheit spielen Ärztinnen und Ärzte eine entscheidende Rolle. Als direkter Ansprechpartner und Bezugsperson für Patientinnen und Patienten sind sie entscheidende Mitwirkende im Versorgungsgeschehen. Wollen Ärztinnen und Ärzte mit der Digitalisierung in der Praxis Schritt halten, müssen sie sich mit der Migräne-App und anderen digitalen Versorgungslösungen ebenso auskennen, wie z.B. mit ihrem Blutdruckmessgerät oder EKG. Erst durch eingehende Schulung und Fertigkeiten können sie technische Innovationen im Versorgungsalltag umsetzen. Dadurch werden innovative und moderne Diagnostik und Behandlung im Versorgungsgeschehen professionell möglich. Wenn Sie als Ärztin oder Ärztin sich als ZDG-Ärztin oder ZDG-Arzt engagieren möchten, können Sie hier weitere Informationen finden.  Erfahren Sie, wie Sie ZDG-Ärztin oder ZDG-Arzt werden können oder kontaktieren Sie die Geschäftsstelle der Zukunftsregion Digitale Gesundheit für weitergehende Details.

Ziel der Zukunftsregion Digitale Gesundheit (ZDG) ist digitale Versorgungslösungen in der Testregion Berlin in eine stärkere Praxisanwendung zu bringen

Die Migräne-App ist in Zusammenarbeit mit in der Behandlung von Migräne- und Kopfschmerzpatienten im bundesweiten Kopfschmerzbehandlungsnetz tätigen spezialisierten Ärzten, Kopfschmerzwissenschaftlern, Versorgungsexperten der Techniker Krankenkasse sowie Selbsthilfegruppen entwickelt worden. Die iOS-Version wurde im Oktober 2016 zur Verfügung gestellt, im Dezember 2016 wurde eine Erweiterung für die Apple-Watch veröffentlicht. Die Android-Version folgte im Februar 2017. Mit Stand März 2020 waren insgesamt rund 250.000 Downloads zu verzeichnen. Nach Nutzerzahlen und Bewertungen in den App-Stores ist die als Medizinprodukt zertifizierte Migräne-App die am weitesten in Deutschland eingesetzte digitale Applikation in der Versorgung von Migräne und Kopfschmerzen. Die Migräne-App ist zudem die erste App, die direkt über einen Versorgungsvertrag nach § 140a ff SGB V der Techniker Krankenkasse zur integrierten Versorgung von Migräne und Kopfschmerzen in die ärztliche Behandlung und Therapie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung vertraglich integriert ist [1-3]. Die Einbindung der Migräne-App in das aktive Versorgungsgeschehen führt zu einem nachweisbaren signifikanten Nutzen für Patienten und Arzt [4].

Aggregierte Informationen, Report-, Informations- und Selbsthilfe-Tools

Die digitale Versorgungsanwendung dokumentiert den Verlauf von Migräne und Kopfschmerzen mit aktiver Dateneingabe. Sie meldet aggregierte Informationen aus dem Datensatz zurück und hilft so den Patienten als auch den betreuenden Ärzten in der Verlaufs- und Erfolgskontrolle sowie der Therapieanpassung. Die Migräne-App enthält Report-, Informations- und Selbsthilfe-Tools. Sie ist als Medizinprodukt Klasse I registriert. Das Konzept stellt die professionelle Einbindung in der praktischen Versorgung von Migräne- und Kopfschmerzpatienten in den Mittelpunkt. Hauptziele sind dabei eine erleichterte Verlaufs- und Erfolgskontrolle, die Steigerung der Therapietreue, die digitale Unterstützung und Begleitung der Behandlung unter ärztlicher Anleitung, die Therapiemotivation sowie die Vermittlung von Information und Wissen zum Krankheitsbild. Zusätzlich erfolgt die digitale Vernetzung von Betroffenen bundesweit durch Selbsthilfe-Communitys über eine geschlossene Gruppe auf Facebook sowie über die Headbook-Community, wodurch gleichzeitig eine digitale Form der Selbsthilfegruppen-Organisation geschaffen wurde. Diese ist mittlerweile als eingetragener Verein aktiv und die größte Selbsthilfegruppe zum Thema in Deutschland.

Die Funktionen der Migräne-App

Die Migräne-App unterstützt Patienten mit chronischen Kopfschmerzen, ihren Krankheitsverlauf digital genau zu dokumentieren, mit wenigen Klicks zu analysieren und zu kontrollieren

Die Migräne-App unterstützt Patienten mit chronischen Kopfschmerzen, ihren Krankheitsverlauf digital genau zu dokumentieren, mit wenigen Klicks zu analysieren und zu kontrollieren. Eine Übersicht über die einzelnen Funktionen und die Menüstruktur gibt Tabelle 1. Die Migräne-App gibt den Nutzer Rückmeldungen und Informationen aus den analysierten Daten. Sie schlägt auf der Grundlage der eingegebenen individuellen Daten Verhaltensmaßnahmen vor. Überschreitet der Nutzer beispielsweise die maximal erlaubte Akutmedikation von höchstens neun Tagen im Monat, erhält er einen Warnhinweis. Den Patienten stehen zudem umfangreiche Informations- und Selbsthilfetools zur Verfügung. Damit können sie u.a. ihr Chronifizierungsrisiko bestimmen und reduzieren, einen Schmerzspezialisten in der Nähe über ein Navigationstool finden oder unter Anleitung Progressive Muskelentspannung in verschiedenen Versionen trainieren. Im Experten-Live-Chats können Sie Fragen an Kopfschmerzexperten richten und zielführende Antworten erhalten.

Digitale Orientierung: Migräne-Aura oder Schlaganfall?

Die Migräne-App enthält zudem u.a. die Simulation einer Migräne-Aura. Sie zeigt wie visuelle Störungen bei Migräne-Attacken aussehen. Da die Symptome einer Migräne-Aura häufig mit denen eines Schlaganfalls verwechselt werden, ist Betroffenen und Ärzten eine erleichtere und schnelle Differentialdiagnose möglich.

Migräne-App-Nutzung reduziert Kopfschmerz- und Medikamententage

Der Einsatz der Migräne-App geht mit einer deutlichen Reduktion der Schmerztage um rund 25 % im Monat einher.

Eine umfangreiche Studie [4] der Schmerzklinik Kiel und der Techniker Krankenkasse (TK) zeigt: Bei Einsatz der Migräne-App lassen sich Schmerztage deutlich reduzieren. So leiden die Nutzer der Migräne-App im Schnitt an rund 25 % weniger Tagen im Monat an Kopfschmerzen als ohne Nutzung der App – durchschnittlich an 10 statt 13,3 Tagen im Monat. Die Studie belegt, dass die Patienten von der Begleitung ihrer Behandlung mit der Migräne-App signifikant profitieren. Sie haben weniger Kopfschmerztage pro Monat, und auch die Notwendigkeit für die Einnahme von Akutmedikamenten gegen Kopfschmerzen nimmt ab. Zum Vergleich: Die meisten vorbeugenden Kopfschmerzpräparate reduzieren die Anzahl der Kopfschmerztage im Mittel um ein bis zwei Tage pro Monat. Die Migräne-App zeigt, dass auf wissenschaftlicher Grundlage basierende digitale Angebote in der Gesundheitsversorgung einen spürbaren Mehrwert für den einzelnen Patienten und die Versichertengemeinschaft bewirken.

 Rund 10 Millionen weniger Kopfschmerztage pro Jahr

Hochgerechnet auf alle Nutzer der App, lässt sich bei aktuell rund 250.000 Downloads die Reduktion der Kopfschmerztage auf rund 10 Millionen Tage pro Jahr in Deutschland beziffern. Die Untersuchung belegt auch, dass die App die ärztliche Behandlung unterstützt und die digitale Medizin in der modernen ärztlichen Sprechstunde angekommen ist. Sieben von zehn befragten Nutzern (71 %) bringen die Migräne-App zum Arztbesuch mit. 58 % nutzen die App-Ergebnisse, um gemeinsam mit ihrem Arzt über die Therapie zu entscheiden, insbesondere um die Medikation anzupassen. 76 % sagen, dass die App ihnen dabei hilft, ihren mit dem Arzt erstellten Behandlungsplan einzuhalten. Zudem ziehen 80 % die App-Lösung einem herkömmlichen Schmerztagebuch auf Papier vor.

Vergleich digitale Versorgung mit der konventionellen Versorgung

Die Migräne-App ermöglicht auf einer objektiven Datenbasis einen datenbasierenden Austausch über die den Impact der Schmerzerkrankung

Voraussetzung für eine individuell angepasste und operationalisierte Kopfschmerztherapie sind Selbstbeobachtung und Dokumentation des Kopfschmerzphänotyps zur Verlaufs- und Erfolgskontrolle. Das Führen eines Kopfschmerztagebuches wurde daher früh in die Leitlinien für die Kopfschmerzbehandlung aufgenommen [5]. Ein Vergleich der Möglichkeiten der digitalen Versorgung mit der Migräne-App mit der konventionellen Versorgung gibt Tabelle 2. Schmerzkalender und Schmerztagebücher auf Papier haben eine Reihe von Nachteilen. Die Informationseingabe ist statisch, eine Datenaggregation zur Unterstützung der klinischen Entscheidungen erfolgt nicht, die Dokumentation ist limitiert, häufig wird sie verlegt oder vergessen. Der Einsatz von Apps in der Medizin gehört daher zu den frühesten professionellen Anwendungsbereichen der mobilen Computertechnologie. Sie wurden früh zur Verlaufs- und Erfolgskontrolle im Rahmen der Schmerz- und Kopfschmerztherapie eingesetzt [6-9]. Mobile Softwareapplikationen haben eine Reihe von Vorteilen gegenüber der Papierdokumentation. Das Smartphone wird in der Regel ständig bei sich geführt und ist das zentrale Kommunikationsgerät bei über 80% der Bevölkerung. Die Dokumentation des Kopfschmerzphänotyps und des Kopfschmerzverlaufes in der Zeit kann unmittelbar erfolgen. Verlaufsparameter können direkt in die App eingetragen werden. Aktuelle Information über Umgebungsvariablen, wie z.B. Lufttemperatur, Luftdruck und Aufenthaltsort können automatisch digital hinzugefügt werden. Aus den Daten kann das Smartphone übersichtliche Auswertungen und Berichte aggregiert generieren, die direkt für die Therapieentscheidung herangezogen werden können und nicht langwierig ausgezählt werden müssen. Verlaufsmuster können somit direkt erkannt und für die weitere Behandlung auch in der Praxis als Grundlage dienen [10]. Die Verlaufs- und Erfolgskontrolle mit Smartphone-Applikationen hat sich als zuverlässiger als Papiertagebücher erwiesen. Sie zeigen eine höhere Compliance im Vergleich zu Papiertagebüchern [11], die Compliance-Rate für elektronische Tagebücher beträgt 94%, während sie für Papiertagebücher nur 11% umfasst [12].

Die Kommunikation mit den Patienten in der Schmerzsprechstunde gehört zu den Kernaufgaben des Arztes und des Praxisteams im praktischen Versorgungsgeschehen. Die Migräne-App ermöglicht auf einer objektiven Datenbasis einen engagierten Austausch über die den Impact der Schmerzerkrankung. Die Kommunikation auf der Grundlage der Migräne-App zeigt dem Patienten, dass sein Anliegen wahrgenommen wird und der Arzt Schritt mit der zeitgemäßen Entwicklung in der Versorgung hält. Arzt und Patienten können auf der Basis einer objektiven Verlaufsanalyse der Migräne-App begründet zuhören, Fragen und Informationen austauschen.

Quantitative Verlaufsparameter machen es Patient und Arzt möglich, die Therapieanpassung zu optimieren, den Verlauf zu kontrollieren und die Effektivität der Behandlungsmaßnahme zu steigern.

Die Migräne-App stärkt die kommunikative Kompetenz des Arztes und des Patienten datenbasiert. Sie ermöglicht ein patientenorientiertes Gespräch und den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses. Der Arzt kann nachvollziehbar erklären und den Patienten zu Nachfragen animieren. Missverständnisse lassen sich ausräumen oder verhindern. Die Migräne-App unterstützt die Verständlichkeit durch Wissen und Information. Der Arzt kann sich verstehbar ausdrücken und Fachvokabular vermeiden.

Die digitale Anwendung spart zudem Zeit durch aggregierte valide Daten, die sofort zur Entscheidungsfindung genutzt werden können, die der Patient nachvollziehen kann. Die Migräne-App beteiligt den Patienten an der Behandlungsentscheidung durch Transparenz des Verlaufes und des bisherigen Therapieerfolges.

Gemeinsame Nutzung durch Arzt und Patient

Anhand von quantitativen Verlaufsparametern wird es Patient und Arzt möglich, die Therapieanpassung zu optimieren, den Verlauf zu kontrollieren und die Effektivität der Behandlungsmaßnahme zu steigern. Dafür wurde in die Migräne-App die Sprechstunden-Checkliste integriert. Sie kann direkt über die Übersichtsseite der App durch den Patient oder Arzt im Cockpit aufgerufen werden (Abbildung 1 und Abbildung 2). Hier findet sich die Sprechstunden-Checkliste mit den zusammengefassten Datensätzen für das laufende Jahr und für das Vorjahr. Diese Analyse kann als pdf-Formular z.B. per E-Mail exportiert werden und in das Praxisinformationssystem des Arztes integriert werden. Auch kann eine Speicherung der Daten in der elektronischen Patientenakte ermöglicht werden. Der Datenabruf kann nur aktiv durch Autorisierung des Patienten erfolgen.

Analyse der Kopfschmerzmerkmale

Die Auswirkungen der Kopfschmerzen auf die Tätigkeit im Beruf, Schule und Studium sind für die Beurteilung der Schwere des Kopfschmerzleidens besonders relevant

Die Jahresauswertung zeigt die aggregierten Datensätze für den jeweiligen Monat des Jahres Abbildung 3. In den ersten vier Spalten werden die wesentlichen Kopfschmerzphänotypen differenziert. Spalte A enthält die Tage mit einer Migräneaura, die Spalte M die Tage mit Migräne, die Spalte S die Tage mit Kopfschmerz vom Spannungstyp und die Spalte U für andere Kopfschmerzformen. Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp sind für über 92% aller Kopfschmerzen in der Bevölkerung verantwortlich. Daher konzentriert sich die Migräne-App auf diese beiden Hauptformen. Da die Internationale Kopfschmerzklassifikation 367 Hauptformen von Kopfschmerzen differenziert ist es nicht möglich, eine sinnvolle Dokumentation aller Kopfschmerzphänotypen und Kopfschmerzunterformen vorzunehmen [13,14].

Erfassung der kopfschmerzbedingten Beeinträchtigung

Die Nutzung der Migräne-App erfordert einen geschulten Patienten, der seine Kopfschmerzform im Alltag differenzieren kann. Da auch der Patient im Alltag wissen muss, bei welcher Kopfschmerzform er welche Akuttherapie oder sonstige Behandlungsmaßnahmen einsetzt, ist die Unterscheidung des Kopfschmerzphänotyps für ein professionelles Behandlungsgeschehen Voraussetzung. Daher muss die digitale Versorgungsanwendung auch nicht sämtliche Merkmale des Kopfschmerzphänotyps für jeden Anfall prospektiv abfragen. Der Patient gibt die entsprechenden Merkmale im Menü „Schnelleingabe“ ein und dokumentiert auch die Schwere, die Dauer, die Art des verwendeten Akutmedikamentes sowie dessen Effektivität. Gleichzeitig dokumentiert er die Auswirkungen der Kopfschmerzen auf die Arbeitstätigkeit, Schule bzw. Studium, auf die Tätigkeit im Haushalt sowie auf die Tätigkeit in der Gesellschaft und Freizeit. Die Migräne-App erfasst dabei progressiv den Grad der Auswirkung auf diese Bereiche. Eine Einschränkung der Tätigkeit um mehr als 50% wird für die Erfassung des Grades der Beeinträchtigung durch Kopfschmerzen dokumentiert. Ebenfalls erfasst die Migräne-App, ob die Aktivität durch Kopfschmerzen für den jeweiligen Bereich komplett unmöglich gemacht wird. Betrifft dies die Arbeit, Schule oder Studium, wird ein Tag mit Arbeitsunfähigkeit (AU) registriert. Wird die Tätigkeit im Haushalt oder in der Freizeit komplett unmöglich gemacht, wird dies mit 100%iger Beeinträchtigung dokumentiert. Die Tage der Beeinträchtigung durch die Kopfschmerzen werden pro Monat summiert und in der letzten Spalte als GdBK-Punkte abgebildet, als „Grad der Beeinträchtigung durch Kopfschmerzen“. Somit erhält Patient und Arzt ein direktes quantitatives Abbild der für die Kopfschmerzen bedingte Beeinträchtigung im jeweiligen Monat. Dieser Score wird analog zum MIDAS-Score errechnet [15-17]. Der MIDAS-Score erfasst die entsprechenden Beeinträchtigungen für den Zeitraum von 3 Monaten rückblickend aus dem Gedächtnis. Es ist evident, dass der dadurch erhobene Wert wesentlich fehleranfälliger ist. Im Unterschied zum MIDAS-Score werden die Daten für die Ermittlung des GdBK fortlaufend prospektiv erhoben, so dass die Verlässlichkeit höher anzusehen ist.

Die direkte Analyse der so erhobenen Verlaufsparameter kann direkt für die Therapieentscheidung herangezogen werden. Eine bedeutsame Abnahme der Migränetage pro Monat um mindestens 50% kann die Wirkung einer gewählten Kopfschmerzprophylaxe operational belegen. Der behandelnde Arzt kann direkt ablesen, ob z.B. das gewählte Medikament effektiv ist oder eine Therapieanpassung durch Dosissteigerung oder Umwechseln des Medikamentes erforderlich ist. Auch ist durch die Analyse der Kopfschmerztage pro Monat die Entstehung einer chronischen Migräne abbildbar. Ist für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten die Summe der Migränetage und der Tage mit anderen Kopfschmerzen 15 oder höher, kann die Diagnose einer chronischen Migräne begründet sein.

Die Migräne-App enthält u.a. die Simulation einer Migräne-Aura. Sie zeigt wie visuelle Störungen bei Migräne-Attacken aussehen. Da die Symptome einer Migräne-Aura häufig mit denen eines Schlaganfalls verwechselt werden, ist Betroffenen und Ärzten eine erleichtere und schnelle Differentialdiagnose möglich

Analyse der Schwere und der Dauer der Kopfschmerzanfälle

Ob die Kopfschmerztherapie im Verlauf effektiv ist, kann auch an der Schwere und der Dauer der Kopfschmerzanfälle abgeleitet werden. Für die Schwere und für die Dauer wird jeweils die Summe der einzelnen Werte pro Monat gebildet und gleichzeitig ein Mittelwert daraus errechnet. Die Schwere der Kopfschmerzen wird mit einem Score (0= kein, 1= schwach, 2= mittel, 3= stark, 4= sehr stark) dokumentiert. Die jeweiligen Graduierungen sind in der Legende auf dem Auswertungs-pdf beschrieben (s. Abbildung 3). Eine Reduktion der durchschnittlichen Schwere sowie eine Reduktion der durchschnittlichen Dauer der Kopfschmerzanfälle kann als Effektivität einer vorbeugenden Behandlung, als auch der Akutbehandlung herangezogen werden.

Analyse der Medikamentenwirkung

Die operationale Bewertung der Wirkung der Akuttherapie kann über die Analyse der Medikamentenwirkung erfolgen. Zunächst werden je Monat die Einnahmetage für die Akuttherapie ausgewiesen. Die Abnahme der Notwendigkeit für die Einnahme von Akutmedikation kann ebenfalls als Hinweis für eine wirksame Prophylaxe interpretiert werden. Auf der anderen Seite kann die Zunahme oder gar das Überschreiten der Einnahmetage pro Monat über 10 und mehr Tagen im Monat als Hinweis für eine zunehmende Chronifizierung und Entwicklung eines Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes bewertet werden. Hier gilt es, mit dem Patienten eingehend zu besprechen, dass die 10-20-Regel eingehalten werden muss und dass das Überschreiten der 10er Grenze eine weitere Chronifizierung fördert. Allein durch den Hinweis auf eine entsprechende Begrenzung der Akutmedikamenteneinnahme pro Monat und möglicherweise die Einweisung in die Durchführung einer Medikamentenpause kann eine entscheidende Stabilisierung und Besserung des Kopfschmerzgeschehens ermöglichen.

Die Wirkung der Akutmedikation kann mittels des Medikamenteneffektes bestimmt werden. Dafür wird ein Score zum Medikamenteneffekt ausgewiesen. Der Medikamenteneffekt (Graduierung 0= kein Effekt, 1= schwach, 2= mittel, 3= gut, 4= sehr gut) zeigt im schlechtesten Fall einen Effekt von 0 und im besten Fall einen Effekt von 4. Idealerweise wird ein Score zwischen 3-4, d.h. gut bis sehr gut, angestrebt. Sollte der Score unter 3 liegen, sollte eine Anpassung der Akuttherapie erwogen werden.

Die Migräne-App ist auch für die Bedienung über die Apple-Watch optimiert

Grad der Beeinträchtigung der Kopfschmerzen, GdBK-Score

Die Auswirkungen der Kopfschmerzen auf die Tätigkeit im Beruf, Schule und Studium sind für die Beurteilung der Schwere des Kopfschmerzleidens besonders relevant. Dies gilt auch für die Auswirkung auf die Tätigkeit im Haushalt sowie auf die Freizeittätigkeit und die gesellschaftlichen Aktivitäten. Die Migräne-App dokumentiert den Grad der Beeinträchtigung durch die Kopfschmerzen für die jeweiligen Bereiche fortlaufend prospektiv und aggregiert diese Daten monatlich. Je Monat wird die Summe der jeweils beeinträchtigten Tätigkeitsfelder zu einem Gesamt-Score gebildet. Dieser Gesamt-Score wird als GDBK-Punkt-Score bezeichnet und bildet den Grad der Beeinträchtigung durch Kopfschmerzen quantitativ ab. Die GDBK-Punkte könne somit direkt für den jeweiligen Monat die kopfschmerzbedingten Beeinträchtigungen quantifizieren. Die Zunahme oder die bedeutsame Abnahme kann direkt quantitativ in der Verlaufskontrolle die Effektivität der Kopfschmerzbehandlung und die Auswirkungen der Kopfschmerzen auf die Lebensqualität dokumentieren. Eine Reduktion des GdBK-Scores um 30% und mehr kann als eine klinisch bedeutsame Verbesserung angesehen werden.

Durch die Sprechstunden-Checkliste ist es Arzt und Patient unmittelbar möglich, das Kopfschmerzgeschehen in den letzten Monaten zu verfolgen und eine individuell datenbasierte Therapieanpassung vorzunehmen. Wesentlich dabei ist jedoch, dass der Arzt eine sachgerechte Interpretation des Datenmusters vornehmen kann. Ist er entsprechend geschult, ist die Migräne-App ein objektives Arbeitswerkzeug für die Verlaufsanalyse und die Therapieoptimierung im Versorgungsgeschehen sowohl für Patient als auch für den Arzt.

Tabelle 1. Übersicht über die Funktionen und die Menüstruktur der Migräne-App 

Menü

Funktionen

Meine Übersicht (Cockpit)

Aggregierte Datenanalyse der letzten 6 Monate

Aufruf Checkliste für die ärztliche Sprechstunde zur Verlaufs- und Erfolgskontrolle

Analyse der Migräne- und kopfschmerzbedingten Beeinträchtigung

Schnelleingabe

Eingabe eines neuen Kopfschmerzanfalles nach
ICHD-3 Kriterien
-Kopfschmerzparameter
-Begleitsymptome
-Akutmedikation (Abruf aus Datenbank, Analyse 10-20 Regel)
-Kopfschmerzbedingte Beeinträchtigung (GdBK)
-Automatische Ergänzung der Wetterdaten am Ort
-Bemerkungen zum Anfall

Schmerzkalender

Monatliche Darstellung des Kopfschmerzverlaufes. Bearbeitung der eingegebenen Daten

Medikamenteneinnahme

Dokumentation der vorbeugenden Medikamente

Auswertung

Datenaggregation für den Arzt pro Monat oder
Jahr. Grundlage für Verlaufs- und Erfolgskontrolle, Therapieanpassung, prospektive Analyse des Grades der kopfschmerzbedingten Beeinträchtigung (GdBK)

Weitere
Tools

Aura-Simulation

Simulation einer Migräne-Aura in der
aktuellen Umgebung

Aura Demo Typ 1

Wiedergabe einer visuellen Migräne-Aura mit
farbigen Fortifikationsspektren

Aura Demo Typ 1

Widergabe einer visuellen Migräne-Aura mit
s/w-Flimmerskotom

Chronifizierung

Skala zur Analyse und Prävention von
Chronifizierungsfaktoren

Schnelltest

Kopfschmerzschnelltest zur Differenzierung
des Kopfschmerzphänotyps

Triptanschwelle

Schnelltest zur Bestimmung des optimalen Zeitpunktes für die Einnahme der Akutmedikation (Analgetika, Triptane)

Expertensuchen

Auffinden und Navigation zu Kopfschmerzexperten im bundesweiten Kopfschmerzbehandlungsnetz in Standortumgebung

Progressive Muskelrelaxation

Umfassende Audioanleitung zum Training der Progressiven Muskelrelaxation als Langform (45 Minuten)

Progressive Muskelrelaxation kurz

Audioanleitung zum Training der Progressiven
Muskelrelaxation als Kurzform (15 Minuten)

Muskelentspannung für Kinder

Audioanleitung zum Training der Progressiven
Muskelrelaxation als Kurzform für Kinder (15 Minuten)

Information

Schmerzklinik Aktuell

Infothek zu aktuellen Themen der Migräne-
und Kopfschmerztherapie

Mediathek

Videothek zu aktuellen Themen der Migräne-
und Kopfschmerztherapie

Kopfschmerzwissen

Bibliothek zu aktuellen Themen der Migräne-
und Kopfschmerztherapie

Kopfschmerz-Klassifikation

Originalversion der Internationalen
Kopfschmerzklassifikation ICHD-3 in deutscher und
englischer Sprache

Communities

Headbook-Community

Digitale Selbsthilfegruppe für Migräne- und
Kopfschmerzen mit ca. 10.000 Mitgliedern

Live-Chat

Experten Live-Chat zu Fragen der Migräne-
und Kopfschmerztherapie

Facebook-Community

Digitaler Austausch zu Migräne- und
Kopfschmerzen mit ca. 30.000 Mitgliedern

Einstellungen

Erinnerungen an PMR

Erinnerungen an das Training der
Progressiven Muskelrelaxation

Warnung 10-20 Regel

Warnung bei Überschreitung der Einnahme von
Akutmedikation an 10 und mehr Tagen im Monat

Erinnerungen vorbeugende Medikamente

Erinnerungsfunktion für vorbeugende Medikamente für tägliche Einnahme, Abstand von 4 Wochen oder 3 Monaten

MIDAS-Score

Retrospektive Analyse der migränebedingten Beeinträchtigung mit MIDAS-Score

Backup/Export

Datensicherung über Backup, Export und Transfer auf anderes Gerät (nur aktiv durch Nutzer möglich)

Video-Anleitungen

 

Video-Clips

Video-Clips mit Erläuterung der verschiedenen Funktion der Migräne-App

 

Literatur

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