Der bei weitem häufigste Grund für eine Migräne, die an 15 oder mehr Tagen pro Monat auftritt bzw. für ein Mischbild von Migräne und Kopfschmerzen vom Spannungstyp mit 15 oder mehr Kopfschmerztagen pro Monat, ist ein Übergebrauch spezifischer Migräneakutmedikamente oder Schmerzmittel [7, 8].
Generell wird ein Medikamenten-Übergebrauch in Einnahmetagen pro Monat definiert. Entscheidend ist, dass die Einnahme regelmäßig, d. h. an mehreren Tagen pro Woche erfolgt. Ist das Limit z. B. 10 Tage im Monat, würde dies durchschnittlich 2–3 Einnahmetage in der Woche bedeuten. Folgen auf eine Häufung von Einnahmetagen längere Perioden ohne Medikation über mindestens drei Tage oder mehr, ist das Entstehen von Kopfschmerzen bei Medikamenten-Übergebrauch weit weniger wahrscheinlich.
Darüber hinaus haben Kopfschmerzen, die auf einen Medikamenten-Übergebrauch zurückzuführen sind, häufig die Eigenart, selbst innerhalb eines Tages zwischen den Charakteristika einer Migräne und denen eines Kopfschmerzes vom Spannungstyp zu wechseln, sodass ein neuer Kopfschmerztyp entsteht. Früher wurde dieser mit dem Begriff „Kombinations-Kopfschmerz“ belegt. Er ist jedoch nicht definiert und sollte daher nicht gebraucht werden. Die Diagnose eines Kopfschmerzes bei Medikamenten-Übergebrauch ist von zentraler Bedeutung, weil Patienten üblicherweise nicht auf eine Kopfschmerzprophylaxe ansprechen, solange ein Medikamenten-Übergebrauch besteht.
Die allgemeinen Kriterien des Medikamenten-Übergebrauch-Kopfschmerzes (MÜK) sind heute international in der internationalen Kopfschmerzklassifikation ICHD-3beta weltweit einheitlich definiert. Die Entstehung dieser schwerwiegenden und häufigen Komplikation in der Behandlung primärer Kopfschmerzen wird aufgrund neuer Studien zunehmend besser verstanden.
Zerebrale bildgebende Studien haben strukturelle und funktionelle Veränderungen im Gehirn bei Patienten mit MÜK identifiziert. Aktuelle Daten belegen funktionelle Veränderungen von intrinsischen neuronalen Netzwerken, nicht jedoch makrostrukturelle Veränderungen. Abhängigkeitsprozesse scheinen dabei eine prominente Rolle in der Entwicklung und Unterhaltung des MÜK zu spielen [1]. Die Häufigkeit der Medikamenteneinnahme pro Monat ist dabei ausschlaggebender signifikanter prognostischer Faktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung des MÜK [3, 12]. Die Rückfallquote ist mit psychologischen Entscheidungsprozessen korreliert, insbesondere mit erhöhten Abhängigkeit-Scores [12].
Weitere aktuelle Studien zur Entstehung des MÜK haben konsistent eine Sensitivierung und erhöhte Erregbarkeit von trigeminalen und kortikalen Neuronen dokumentiert [9, 16, 17, 18, 19]. Die kortikale Übererregbarkeit scheint die Entwicklung der kortikalen spreading depression zu begünstigen, die als Korrelat der Migräneaura angesehen wird. Die periphere und zentrale Hypersensitivierung scheint damit ebenfalls erhöht zu werden.
Es wird angenommen, dass diese Veränderung auf serotoninergen (5-HT) und möglicherweise endocannabinoid-vermittelten Mechanismen basiert. Die Expression von erregenden kortikalen 5-HT2A Rezeptoren könnte die Wahrscheinlichkeit für die Aktivierung der kortikalen spreading depression erhöhen. Eine Erschöpfung der zentralen Schmerzabwehrsysteme kann den Prozess der zentralen Sensitivierung aktivieren und weitere molekulare Prozesse der Hyperexzitabilität anfachen. Erniedrigte 5-HT-Spiegel können die Expression und die Freisetzung von calcitonin gene-related peptide (CGRP) erhöhen und die Sensitivierung trigeminaler Neurone weiter erhöhen.
Die Erschöpfung der zentralen schmerzmodulierenden Systeme als Folge des chronischen Medikamenten-Übergebrauchs führt somit direkt zu einer graduell zunehmenden Sensitivierung der Schmerzwahrnehmung und bedingt kontinuierlich eine Häufigkeitssteigerung der Schmerzmitteleinnahme, die wiederum eine weitere Sensitivierung nach sich zieht. Ohne Unterbrechung dieser Rückkopplung kann so eine nach oben offene Endlosschleife entstehen [9, 16, 17, 18, 19]. Genau diese Entwicklung ist im klinischen Alltag zu beobachten [3].
Die beschriebenen Mechanismen betreffen nicht nur die Schmerzempfindung. Auch andere Aspekte des Erlebens und Verhaltens werden beeinflußt. Diese schließen Depression, Angst, innere Unruhe, Schlafstörungen, erhöhte Reizbarkeit, Energielosigkeit, Erschöpfung, sozialen Rückzug u.a. ein. Das Erleben und Verhalten konzentriert sich auf den Schmerz und die frustranen Behandlungsversuche. Diese pathophysiologischen Mechanismen machen verständlich, warum vorbeugende Migränemedikamente in ihrer Wirksamkeit aufgehoben werden, wenn gleichzeitig ein MÜK besteht. Es ist sinnlos, einerseits mit einer medikamentösen Prophylaxe eine Reduktion der Hyper-Sensitivierung anzustreben, gleichzeitig aber den unterhaltenden und weiter steigernden Grund für diese Hyper-Sensitivierung, nämlich den Medikamenten-Übergebrauch, fortzuführen [3, 11]. Ebenso ist es nicht zielführend, mit einer Dauereinnahme von Triptanen eine stabile Situation zu erwarten. Die Sensitivierung wird zunehmend stärker und mit der Zeit dekompensiert und eskaliert die Situation.
Für die nachhaltige Therapie gibt es daher nur eine Lösung: Die stetige Medikamentenzufuhr muss gestoppt werden und eine Medikamentenpause oder bei Substanzen, die nicht weiter verwendet werden dürfen, ein Medikamentenentzug eingehalten werden [4, 5, 6, 15, 20, 21]. Ziel ist die Erholung des erschöpften körpereigenen Schmerzabwehrsystems und Normalisierung der Schmerzempfindlichkeit. Solange der kontinuierliche Übergebrauch weiter betrieben wird, kann kein Behandlungsverfahren eine entscheidende und nachhaltige Besserung erzielen. Es gibt keine grundlegende Lösung des Problems, als eine kontrollierte und systematische Schmerzmittel-Einnahmepause [3, 7, 8, 11].
Führt die alleinige Information und Anleitung des Patienten nicht zur Beendigung des Medikamenten-Übergebrauchs, ist eine Medikamentenpause oder eine Entzugsbehandlung erforderlich. Diese kann ambulant, tagesklinisch-teilstationär oder stationär erfolgen. In unkomplizierten Fällen unterscheiden sich die Ergebnisse der gewählten Organisationsform nicht. In komplizierten Fällen ist die stationäre Entzugsbehandlung im Rahmen eines multimodalen Behandlungskonzepts signifikant überlegen. [2, 10, 11, 13, 14, 16]
Literatur
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3. Göbel H (2012) Die Kopfschmerzen. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo, Hong Kong, Barcelona, Budapest
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8. Headache Classification Subcommittee of the International Headache S (2004) The International Classification of Headache Disorders: 2nd edition. Cephalalgia : an international journal of headache 24 Suppl 1:9-160
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12. Radat F, Chanraud S, Di Scala G et al. (2013) Psychological and neuropsychological correlates of dependence-related behaviour in Medication Overuse Headaches: a one year follow-up study. The journal of headache and pain 14:59
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