Migräne als komplexe neurovaskuläre Erkrankung
Migräne ist eine komplexe, neurovaskuläre Erkrankung des Gehirns [8, 12]. Innerhalb eines Jahres sind ca. 15% der Bevölkerung betroffen[12, 17, 26]. Nach Zahnkaries und Kopfschmerz vom Spannungstyp nimmt die Migräne den 3. Platz der häufigsten Erkrankungen des Menschen ein [24]. Schon bereits vor über 50 Jahren wurde in skandinavischen Langzeitstudien bei Kindern und Jugendlichen auf die große Bedeutung von Kopfschmerzen hingewiesen [3]. Seit dieser Zeit ist eine deutliche Zunahme von Kopfschmerzen in epidemiologischen Studien zu vermerken. Dies hat einerseits mit der präzisen modernen Diagnostik zu tun. Während frühere Lebenswelten die Empfindlichkeit für die genetisch vorhandene Kopfschmerzbereitschaft stabil gehalten haben und klinische Krankheitsverläufe nicht in der heute bekannten Schwere und Häufigkeit aufgetreten sind, können andererseits moderne Lebensstile mit hoher Beanspruchung der Funktionen des Nervensystems verstärkt zur klinischen Manifestation von Kopfschmerzerkrankungen führen. Die Notwendigkeit für Behandlungen steigt.
Migräne steht weltweit an 2. Stelle der am meisten beeinträchtigenden Krankheiten, bei jungen Frauen liegt sie sogar an 1. Stelle [8, 24]. Schwere Migräneattacken werden von der Weltgesundheitsorganisation unter die am meisten behindernden Krankheiten eingestuft, vergleichbar mit Demenz, Querschnittslähmung und aktiver Psychose.
Die Erkrankung bedingt eine enorme klinische und wirtschaftliche Belastung für den Einzelnen und die Gesellschaft. Migräne ist ein chronisches Leiden, das über viele Dekaden des Lebens bestehen kann. Bei einem Teil der Patienten kann sie progressiv ablaufen. Dies bedeutet, dass sowohl die Häufigkeit der Migräneattacken als auch deren Intensität und Dauer zunehmen können. Gleichzeitig können auch Begleitsymptome wie Übelkeit, Erbrechen sowie Lärm- und Lichtüberempfindlichkeit verstärkt werden. Folge ist, dass episodisch auftretende Migräneattacken in eine chronische Verlaufsform übergehen können.
Die chronische Migräne betrifft ca. 1-2 % der Bevölkerung [8, 12, 26]. Das sind rund 1,66 Millionen Menschen in Deutschland. Etwa 2,5% der Personen mit episodischer Migräne entwickeln eine chronische Migräne. Die betroffenen Patienten haben 15 und mehr Kopfschmerztage im Monat. Die Prävalenz der Migräne zeigt einen Gipfel im Erwachsenenalter zwischen dem 25. und 55. Lebensjahr. Am stärksten sind Betroffene zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr von Migräneattacken belastet. Bei diesen ist die Wahrscheinlichkeit für Arbeitsunfähigkeit oder vorzeitige Berentung erhöht. Klinische Beobachtungen zeigen, dass die schmerzunterhaltende psychische Komorbidität von Migränepatienten in den letzten Jahren deutlich komplexer und schwergradiger ausfällt. Dies betrifft sowohl depressive Erkrankungen als auch Angsterkrankungen. Das Risiko für Depressionen, Angsterkrankungen und Suizid ist bei den Betroffenen 3-7 mal höher als bei Gesunden. Das Risiko für Kreislauferkrankungen, Herzinfarkte und Schlaganfall ist rund 1,5-2 mal höher als bei Gesunden. Dies betrifft besonders junge Frauen unter 45 Jahren.
Es wird geschätzt, dass die deutsche Bevölkerung 32 Millionen Arbeitstage im Jahr durch Migräne verliert. Migräne und chronische Kopfschmerzen sind zweithäufigster Grund für kurzfristige Arbeitsunfähigkeit. Nach Hochrechnungen werden aufgrund Arbeitsunfähigkeit durch Migräne allein jährlich 3,1 Milliarden Euro in Deutschland bedingt, berechnet auf der Grundlage von 32 Millionen verlorenen Tagen.
Die Migräne wird entsprechend der diagnostischen Kriterien der 3. Auflage der Internationalen Kopfschmerzklassifikation ICHD-3 [17] diagnostiziert (s. Tabelle). Es werden heute 48 Hauptformen der Migräne unterschieden. Die wichtigsten Untergruppen sind die Migräne ohne Aura, die Migräne mit Aura, die chronische Migräne, die Migränekomplikationen, die wahrscheinliche Migräne und die episodischen Syndrome, die mit einer Migräne einhergehen können. Die genaue Kenntnis der Internationalen Kopfschmerzklassifikation ist Grundlage dafür, dass man mit dem Fortschritt der heutigen Diagnostik und Therapie der Migräne schritthalten kann.
Tabelle 1: ICHD-3 Kriterien verschiedener Migräneformen [17]
—————————-
Migräne ohne Aura
Mindestens fünf Migräneattacken, die die folgenden drei Kriterien erfüllen und die nicht besser durch eine andere Diagnose der ICHD-3 erfüllt sind.
- Die Kopfschmerzattacken dauern 4-72h (unbehandelt).
- Der Kopfschmerz weist mindestens zwei der folgenden vier Charakteristika auf: einseitige Lokalisation, pulsierende Qualität, mäßige oder starke Schmerzintensität, Verschlimmerung durch oder Vermeidung von routinemäßigen körperlichen Aktivitäten.
- Während des Kopfschmerzes tritt mindestens eines der folgenden Merkmale auf: Übelkeit und/oder Erbrechen, Photophobie und Phonophobie.
Migräne mit Aura
Mindestens zwei Attacken, die die beiden folgenden Kriterien erfüllen und die nicht besser durch eine andere ICHD-3-Diagnose erklärt werden können.
- Eines oder mehrere der folgenden vollständig reversiblen Aurasymptome: visuelle, sensorische, sprachliche, motorische, Hirnstamm, retinal.
- Mindestens drei der folgenden sechs Merkmale: Mindestens ein Aurasymptom breitet sich allmählich über ≥5 Minuten aus, zwei oder mehr Aurasymptome treten nacheinander auf, jedes einzelne Aurasymptom dauert 5-60min, mindestens ein Aurasymptom ist unilateral, mindestens ein Aurasymptom ist positiv, die Aura wird von einem Kopfschmerz begleitet oder folgt innerhalb von 60 min.
Chronische Migräne
Kopfschmerz (migräneartig oder spannungstypähnlich), der die folgenden zwei Kriterien erfüllt an ≥15 Tage/Monat über >3 Monate und nicht besser durch eine andere ICHD-3 Diagnose erklärt werden kann.
- Auftreten bei einem Patienten, der bereits mindestens fünf Attacken hatte, die die Kriterien für Migräne ohne Aura oder mindestens zwei Attacken, die die Kriterien für eine Migräne mit Aura erfüllen.
- Kopfschmerz, der an ≥8 Tagen/Monat seit >3 Monaten auftritt und eines der folgenden Kriterien erfüllt:
- Kriterien für eine Migräne ohne Aura, Kriterien für eine Migräne mit Aura oder der Patient glaubt, dass es sich bei Beginn um eine Migräne handelt und die Symptome durch ein Triptan oder ein Mutterkornderivat gelindert werden.
—————————-
Die Phasen der Migräne
Interiktale Phase
In der Abb. 1 werden die Phasen der Migräne differenziert [8, 17]. Aufgrund der genetischen Ausstattung mit besonderen Risikogenen [15] zeigen Migränepatienten zwischen den Kopfschmerzphasen ein besonderes neuropsychologisches Profil. Die Reagibilität auf sensorische, kognitive und affektive Reize ist erhöht. Die Betroffenen nehmen intensiver wahr und habituieren nicht oder wenig auf repetitive Reizeinwirkung. Die Wahrnehmungsbereitschaft ist erhöht. Die Filterung von Reizen und das Abwenden des permanenten Reizimpulses sind reduziert. Die sensorische, affektive und kognitive Stimulation durch innere und äußere Reize bedingt damit permanent eine erhöhte Aktivierung des Nervensystems. Denken, Kreativität und Impulsivität können dadurch intensiviert sein. Andererseits besteht eine besondere Dauerbelastung durch Ängste und Grübeln.
Prodromalphase, Triggerfaktoren
Immer noch weitverbreitet ist die Annahme, dass Migräneattacken durch spezielle Triggerfaktoren bedingt werden. Aus früheren Jahrzehnten sind sogenannte Triggerlisten bekannt, die zahlreiche vermutete Triggerfaktoren aufzählen. Eine eindeutige Evidenz für deren Wirkung ist jedoch nicht vorhanden. Nach heutiger Annahme wird davon ausgegangen, dass die Wirkung möglicher Triggerfaktoren bereits Teil der Prodromalsymptome im Rahmen des Migränekomplexes darstellen [19, 25]. So ist die Wahrnehmung von Stress Folge der erhöhten Irritierbarkeit und Reizbarkeit vor der Migräneattacke. Zu anderen Zeitpunkten können entsprechende Vorgänge Migräneattacken bei den Betroffenen nicht auslösen. Der Hunger nach bestimmten Speisen wie z.B. Schokolade oder Hochkalorischem ist Ausdruck eines Schutzmechanismus bei Energiedefizit und hypothalamischer Übererregbarkeit als Teil der Migräneattacke [4, 9]. Die Reaktion ist daher nicht Ursache der Migräne, sondern bereits eine Konsequenz der ablaufenden Attacke.
Aufgrund dieser permanenten Aktivität des zentralen Nervensystems kann nach einer bestimmten Phase der erhöhten Arbeitsanforderung des Gehirns ein Energiedefizit in den Nervenzellen bedingt werden [16]. Dies führt zu einer Schutzreaktion des Nervensystems mit Aktivierung von Heißhunger zur Aufnahme von Energie in Form von Kohlenhydraten sowie Gähnen zur Aufnahme von Sauerstoff. In dieser Phase der Irritierbarkeit treten als Prodromalsymptome der Migräne Müdigkeit, Schläfrigkeit, Gähnen, erhöhte sensorische Empfindlichkeit mit Allodynie, Hyperpathie, Reizbarkeit und Osmophobie auf. Die kognitiven und affektiven Leistungen des Nervensystems werden irritiert, die vegetative Steuerung wird zunehmend gestört und es treten Ödeme, Übelkeit, Diarrhoe und weitere vegetative Symptome auf.
Auraphase
Es folgt die nächste Phase, die Auraphase, welche mit fokalen neurologischen Symptomen einhergeht. Die Symptome zeigen eine graduelle Migration und breiten sich kontinuierlich über eine Dauer von 5 bis 60 Minuten aus [8, 17]. In Einzelfällen können sie auch prolongiert über Stunden oder Tage anhalten und im Einzelfall auch in einen migränösen Infarkt übergehen. Am häufigsten werden visuelle Störungen in Form von Fortifikationsspektren mit Zickzacklinien im Gesichtsfeld, die sich homonym allmählich ausbreiten, bemerkt. Mit der Migräne-App [13] kann eine Aurasimulation erfolgen und Betroffene können den Verlauf einer typischen Aura nachvollziehen (s. Abb. 2). Dies kann die Diagnosefindung und die Sicherung der Diagnose unterstützen. Die Migräneaura stellt die Enzyklopädie der Neurologie dar. Entsprechend können mannigfaltige Symptome auftreten. Diese schließen sensorische, motorische, affektive und neuropsychologische Störungen ein. Eine besonders komplexe Aurasymptomatik kann bei der Migräne mit Hirnstammaura [17] auftreten.
Kopfschmerzphase
Es schließt sich innerhalb von bis zu 60 Minuten die Kopfschmerzphase an [17]. Diese hat eine typische Dauer von 4-72 Stunden. Im Rahmen eines Status migraenosus kann die Kopfschmerzphase auch darüber hinaus anhalten. Die Kopfschmerzen werden durch einseitigen pulsierenden, pochenden Schmerz von sehr schwerer Intensität charakterisiert. Der Schmerz verstärkt sich durch körperliche Tätigkeiten wie z.B. Laufen, Bücken oder Treppensteigen. In der Regel werden die Patienten aufgrund der Schwere der Schmerzen oft bettlägerig. An Begleitsymptomen können Übelkeit, Erbrechen sowie Photo- und Phonophobie auftreten. Die Kopfschmerzphase kann durch mannigfaltige weitere Symptome charakterisiert sein. Für die präzise Klassifikation sind die vorbeschriebenen vorstehenden Mindestmerkmale spezifisch und sensitiv.
Postdromalphase
Die Kopfschmerzphase geht in die Postdromalphase bei ca. 30% der Betroffenen über [8, 17]. Hier verspüren die Patienten bis zu 48 Stunden Müdigkeit, Asthenie, erhöhte Reizbarkeit, Reduktion der Denkvorgänge und weiterer kognitiver Funktionen. Im Anschluss tritt die Migräne wieder in die interiktale Phase ein. Hier gelten die bereits vor der Migräneattacke aufgetretenen neuropsychologischen Besonderheiten auf der Grundlage der besonderen genetischen Ausstattung, die zur charakteristischen neurovaskulären Reagibilität des Nervensystems von Migränepatienten führt.
Migräne ist nicht allein eine Schmerzerkrankung, charakterisiert durch die Kopfschmerzphase. Sie betrifft vielmehr die gesamte kreative Lebensspanne der Betroffenen [8, 12, 24, 26]. Sie tritt in der Regel in den ersten zwei Lebensdekaden auf und belastet bis zur sechsten und siebten Lebensdekade mit den beschriebenen Merkmalen während der interiktalen Phase und der Zeitspanne während der Kopfschmerzattacken.
Chronisch lebenslange Besonderheit des Nervensystems
Die klinischen Merkmale der Migräne sind komplex und zeigen eine umfangreiche Variabilität zwischen den Patienten [8, 12, 24, 26]. Die Häufigkeit, die Charakteristika, die Dauer sowie die Schwere der Symptome sind intra- und interindividuell sehr unterschiedlich. Auch innerhalb der Lebensspanne können die Symptome sich verändern. Der Migräneverlauf kann durch Hormonveränderungen fluktuieren. Im menstruellen Fenster können besonders schwere Attacken bei Frauen bestehen. Während der Schwangerschaft sind Migräneattacken bei vielen Frauen dagegen weniger stark ausgeprägt. Im Wochenbett und während der Stillzeit können sie dafür umso stärker belasten.
Die Migräne ist eine chronische lebenslange Besonderheit des Nervensystems, die aufgrund von angelegten Risikogenen das Risiko für Migräneattacken erhöht [3, 15, 17, 24]. Die Attacken treten bei den meisten Patienten episodisch anfallsweise auf. Der Begriff „chronische Migräne“ bezieht sich auf Verläufe, bei denen Patienten an 15 und mehr Tagen im Monat Migräneattacken erleiden und diese Verlaufsform seit über drei Monaten besteht. Unter den 15 Tagen mit Kopfschmerzen müssen mindestens acht Tage sein, an denen die Kopfschmerzen die Merkmale der Migräne erfüllen. Die Migräne ist per se eine chronische Erkrankung, die in Episoden auftritt. Der Begriff „chronische Migräne“ bezieht sich auf Migräneattacken, die in sehr hoher Frequenz auftreten. Bei 2-5% der Betroffenen kann der Übergang von einer episodischen Migräne in eine chronische Migräne entstehen [8].
Dieser Übergang kann spontan auftreten. Häufig tritt er jedoch im Zusammenhang mit einem Übergebrauch von Akutmedikamenten zur Behandlung der Migräneattacken auf [14]. Nehmen Betroffene an 10 und mehr Tagen im Monat Akutmedikamente ein, kann die Kopfschmerzfrequenz paradoxerweise gesteigert werden. Folge sind mehr Kopfschmerztage im Monat und eine erhöhte Notwendigkeit, weitere Akutmedikamente einzunehmen. Schließlich erhöht sich die Frequenz der Migränetage pro Monat auf 15 und mehr Tage. Im Einzelfall können auch Dauerkopfschmerzen resultieren. Typischerweise verspüren die Betroffenen dann einen Grundkopfschmerz, der von Schmerzattacken episodisch überlagert wird. Weitere Risikofaktoren für den Übergang einer episodischen Migräne in die chronische Migräne sind eine hohe Attackenfrequenz, eine nicht ausreichende Akutbehandlung der Migräne, schwere Attacken, lange Attacken, eine nicht effektive vorbeugende Therapie, Übergewicht, Ängste, Depression und eine allgemeine erhöhte Reizempfindlichkeit. Bei erfolgreicher Behandlung kann eine chronische Migräne auch wieder in eine episodische Migräne remittieren.
Komorbiditäten
Migräne kann mit zahlreichen Komorbiditäten assoziiert sein. Dadurch kann die migränebedingte Behinderung weiter erschwert werden und die Komplexität der klinischen Symptome sowie der Behandlungsansätze erhöht werden [8, 17, 24]. Im Vordergrund stehen psychische sowie kardiovaskuläre Erkrankungen. Im Bereich psychischer Erkrankungen stehen Depressionen, Ängste, Stresserkrankungen, Substanzfehlgebrauch, chronisches Müdigkeitssyndrom, Fibromyalgie, Hyperventilationssyndrom und muskuloskelettale Schmerzerkrankungen im Vordergrund. Neurovaskuläre Erkrankungen schließen Schlaganfall, Herzinfarkt, Dissektionen, Epilepsie, Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivitätssyndrom, chronische Schmerzerkrankungen, Reizdarmsyndrom, Arthritis und Restless-Legs-Syndrom ein.
Pathophysiologie
Aufgrund von genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) wird geschlussfolgert, dass 40-60% der klinischen Symptomatik der Migräne durch genetische Faktoren bedingt ist [8, 15]. Umfangreiche endogene und exogene Faktoren können für die sonstigen Merkmale der Migräne verantwortlich gemacht werden Diese schließen Verhalten, Alter, Ernährung, Hormone, Schlaf, Stress u.a. ein. In genomweiten Assoziationsstudien konnten 38 Risikogene für Migräne mit 44 Genvarianten aufgedeckt werden [8, 15]. Die entdeckten Risikogene sind in der glutaminergen Neurotransmission, der Entwicklung von Synapsen, der Plastizität von Synapsen, dem Stoffwechsel und der Schmerzverarbeitung involviert.
Spezielle Migräneformen können auch monogen bedingt sein. Es werden heute vier verschiedene Varianten beschrieben [8]: Die cerebrale autosomale dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukoenzephalopathie (CADASIL), die retinale Vaskulopathie mit cerebraler Leukoenzephalopathie und systemischer Manifestation (RVCL-S), das familiäre fortgeschrittene Schlafphasensyndrom (FASPS) und die familiäre hemiplegische Migräne (FHM). Die entsprechenden Mutationen sind spezifisch in genetischen Studien aufgedeckt worden.
In den letzten Jahren haben zudem neurophysiologische, funktionelle und strukturelle bildgebende sowie pharmakologische Studien ein umfangreiches Bild zu den Pathomechanismen der Migräne erarbeitet [1, 20]. Funktionelle bildgebende Studien mit PET, SPECT und funktionelle MRT-Studien während der Migräneaura haben fortlaufende Blutflussänderungen aufgedeckt. Initial wird eine kurze Hyperperfusion beobachtet, die von einer sich anschließenden länger dauernden Hypoperfusion gefolgt wird. Diese Veränderungen treten in Hirnarealen auf, die mit den klinischen Aurasymptomen korreliert sind, insbesondere in der Sehrinde.
Klinische und experimentelle Befunde weisen darauf hin, dass die Migräneaura durch eine sogenannte Spreading Depression bedingt ist [27]. Während dieser Phase weisen Nervenzellen in der betroffenen Hirnregion eine weitgehende Depolarisation mit massivem Reflux von Kaliumionen und zahlreichen weiteren Neurotransmittern auf. Diese schließen Glutamat-, Natrium- und Calciumionen sowie eine neuronale Schwellung ein. Studien weisen darauf hin, dass die Vorgänge durch ein neuronales Energiedefizit aufgrund mangelnder Energieversorgung der Nervenzellen oder durch einen erhöhten Energieverbrauch entstehen [1, 4, 8, 9, 16]. Folge ist eine Dekompensation der metabolischen Vorgänge in den Nervenmembranen.
Die Spreading Depression kann nach experimentellen Daten trigeminale nociceptive Bahnen aktivieren. In der Folge können Kopfschmerzen ausgelöst werden. Konsequenz ist die Aktivierung von pialen und duralen Makrophagen sowie dendritischen Zellen [22]. Glymphatische Bahnen werden verschlossen und zahlreiche nociceptive Mediatoren werden freigesetzt [23]. In der Folge werden periphere trigemino-vaskuläre Neuronen im Trigeminusganglion und trigemino-vaskuläre Neurone im spinalen Trigeminuskern und oberen zervikalen Rückenmark aktiviert. Zahlreiche endogene Faktoren wie Hormone und Genvarianten sowie exogene Faktoren wie Lebensstil, Ernährung und Medikamente können die Empfindlichkeit des Gehirns für die Spreading Depression verändern [8, 27].
CGRP und Migräne
Die Stimulation des Trigeminusganglion bedingt eine Freisetzung von Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) und Substanz P [7]. CGRP wird in die kraniale Blutzirkulation freigesetzt und kann durch Triptane blockiert werden. CGRP aktiviert in der Dura, im Trigeminusganglion, im zervikalen Trigeminuskernkomplex, im Thalamus und im periaquaduktalen Grau nociceptive Mechanismen [7]. Bei schweren prolongierten Migräneattacken kann die Freisetzung von CGRP in der kranialen Zirkulation beobachtet werden. Die klinische Symptomatik als auch die Freisetzung von CGRP kann durch Triptane blockiert werden [18]. CGRP-Infusionen können bei Migränepatienten eine Attacke provozieren [2]. Dies ist nicht der Fall bei gesunden Kontrollpersonen. Monoklonale Antikörper, die spezifisch auf das CGRP als Ligand (Eptinezumab, Fremanezumab und Galcanezumab) oder den CGRP-Rezeptor (Erenumab) gerichtet sind, sind mittlerweile für die vorbeugende Behandlung von episodischer und chronischer Migräne in der Versorgung verfügbar [6, 10]. Sie hemmen die Wirkung von CGRP im Migränegeschehen (Abb. 3). Sie haben sich in kontrollierten Studien als wirksam und verträglich gezeigt. Die Wirksamkeit tritt innerhalb von Wochen ein und ist über Jahre anhaltend.
Während der Migräneattacke bedingt die Freisetzung der Neuropeptide eine periphere und zentrale trigemino-vaskuläre Sensitivierung. Algogene proinflammatorische Mediatoren wie CGRP, Stickstoffmonoxid und Prostaglandine erhöhen die Empfindlichkeit der neurovaskulären Strukturen [5, 21]. Diese reagieren auf mechanische Stimulation, für die sie üblicherweise nicht empfindlich sind. Folge ist eine spontane Aktivierung nociceptiver Neurone, eine Erweiterung von rezeptiven Feldern sowie lokale Allodynie und Hyperpathie in Bereichen des Kopfes und außerhalb des Kopfes. Zusätzlich werden auch Muskelreflexe aktiviert. Körperliche Aktivierung wie Husten, Pressen oder motorische Aktivitäten können die Schmerzintensität erhöhen. Eine Allodynie perikranialer und kranialer Strukturen im Kopf und Schulter-Nackenbereich bedingt eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit und muskuläre Sensitivität des Kopfes und Schulter-Nackenbereiches. Die thalamische Sensitivierung bedingt eine erhöhte körperliche Empfindlichkeit und sensorische Übererregbarkeit mit Vermeidung von sensorischen Reizen. Bei Patienten mit einer chronischen Migräne können entsprechende Mechanismen permanent vorhanden sein.
Das Migränegehirn zwischen den Anfällen
Auch zwischen den Anfällen weist das Nervensystem von Migränebetroffenen deutliche strukturelle und funktionelle Unterschiede zu gesunden Kontrollpersonen auf [11, 21]. Das Volumen der grauen Substanz in schmerzverarbeitenden Arealen ist reduziert, das Volumen der grauen Substanz im somatosensorischen Kortex ist erhöht. Läsionen im Bereich der weißen Substanz können verstärkt auftreten und die Integrität der weißen Substanz kann reduziert sein. Ursächlich können diese Veränderungen durch die wiederholte nociceptive Aktivierung und Ischämie der betroffenen Hirnareale oder durch die wiederholten Migräneattacken bedingt sein. Gleichzeitig sind die visuellen, auditorischen, somatosensorischen und motorisch-evozierten Antworten durch nociceptive Prozesse in der rostralen Pons erhöht. Folge ist eine dysfunktionale Habituation auf sensorische Reizverarbeitung. Schmerzprozesse können dadurch weniger effektiv stabilisiert und moduliert werden. Erhöhte Glutamat-Spiegel im visuellen Kortex von Migränepatienten deuten auf eine ständige kortikale Hypererregbarkeit hin.
Ausblick
In den letzten Jahren wurden faszinierende Fortschritte im Verständnis des Ablaufes und der Pathomechanismen der Migräne erzielt. Migräne kann heute präzise mittels der ICHD-3 Kriterien [17] diagnostiziert und von anderen Kopfschmerzformen differentialdiagnostisch abgegrenzt werden. Auf dieser Basis konnten spezifische Pathomechanismen entdeckt und aufgeklärt werden [8]. Dies hat zur Entwicklung hocheffektiver Behandlungsmaßnahmen mit sehr effektiven und präzisen Eingriffen in das Krankheitsgeschehen geführt [6, 7]. Vielen Betroffen kann daher heute wirksam geholfen werden. Dennoch gibt es Patienten, denen die verfügbaren präventiven Therapien und die Attacken-Therapien noch nicht befriedigend helfen können. Die aktuelle Forschungs-Pipeline gibt jedoch Hoffnung: Sie ist gut gefüllt mit potenziellen neuen Targets, Medikamenten und weiteren zukünftigen Therapieoptionen.
Literatur
- Akerman S, Holland PR, Goadsby PJ (2011) Diencephalic and brainstem mechanisms in migraine. Nat Rev Neurosci 12:570-584
- Ashina M (2020) Migraine. N Engl J Med 383:1866-1876
- Bille B (1997) A 40-year follow-up of school children with migraine. Cephalalgia 17:488-491; discussion 487
- Borkum JM (2016) Migraine Triggers and Oxidative Stress: A Narrative Review and Synthesis. Headache 56:12-35
- Burstein R, Cutrer MF, Yarnitsky D (2000) The development of cutaneous allodynia during a migraine attack clinical evidence for the sequential recruitment of spinal and supraspinal nociceptive neurons in migraine. Brain 123 ( Pt 8):1703-1709
- Drellia K, Kokoti L, Deligianni CI et al. (2021) Anti-CGRP monoclonal antibodies for migraine prevention: A systematic review and likelihood to help or harm analysis. Cephalalgia 41:851-864
- Edvinsson L, Haanes KA, Warfvinge K et al. (2018) CGRP as the target of new migraine therapies – successful translation from bench to clinic. Nat Rev Neurol 14:338-350
- Ferrari MD, Goadsby PJ, Burstein R et al. (2022) Migraine. Nat Rev Dis Primers 8:2
- Fila M, Chojnacki C, Chojnacki J et al. (2021) Nutrients to Improve Mitochondrial Function to Reduce Brain Energy Deficit and Oxidative Stress in Migraine. Nutrients 13
- Forbes RB, Mccarron M, Cardwell CR (2020) Efficacy and Contextual (Placebo) Effects of CGRP Antibodies for Migraine: Systematic Review and Meta-analysis. Headache 60:1542-1557
- Goadsby PJ, Holland PR, Martins-Oliveira M et al. (2017) Pathophysiology of Migraine: A Disorder of Sensory Processing. Physiol Rev 97:553-622
- Goadsby PJ, Lipton RB, Ferrari MD (2002) Migraine–current understanding and treatment. N Engl J Med 346:257-270
- Göbel H, Frank B, Heinze A et al. (2019) Healthcare behavior of migraine and headache patients when treatment is accompanied by the digital migraine app. Schmerz 33:147-155
- Göbel H, Heinze-Kuhn K, Petersen I et al. (2014) Classification and therapy of medication-overuse headache: impact of the third edition of the International Classification of Headache Disorders. Schmerz 28:191-204; quiz 205-196
- Gormley P, Anttila V, Winsvold BS et al. (2016) Meta-analysis of 375,000 individuals identifies 38 susceptibility loci for migraine. Nat Genet 48:856-866
- Gross EC, Lisicki M, Fischer D et al. (2019) The metabolic face of migraine – from pathophysiology to treatment. Nat Rev Neurol 15:627-643
- Headache Classification Committee of the International Headache Society (2018) The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. Cephalalgia 38:1-211
- Knight YE, Edvinsson L, Goadsby PJ (2001) 4991W93 inhibits release of calcitonin gene-related peptide in the cat but only at doses with 5HT(1B/1D) receptor agonist activity? Neuropharmacology 40:520-525
- Lipton RB, Pavlovic JM, Haut SR et al. (2014) Methodological issues in studying trigger factors and premonitory features of migraine. Headache 54:1661-1669
- Maniyar FH, Sprenger T, Monteith T et al. (2014) Brain activations in the premonitory phase of nitroglycerin-triggered migraine attacks. Brain 137:232-241
- May A (2009) New insights into headache: an update on functional and structural imaging findings. Nat Rev Neurol 5:199-209
- Schain AJ, Melo-Carrillo A, Borsook D et al. (2018) Activation of pial and dural macrophages and dendritic cells by cortical spreading depression. Ann Neurol 83:508-521
- Schain AJ, Melo-Carrillo A, Strassman AM et al. (2017) Cortical Spreading Depression Closes Paravascular Space and Impairs Glymphatic Flow: Implications for Migraine Headache. J Neurosci 37:2904-2915
- Steiner TJ, Stovner LJ, Jensen R et al. (2020) Migraine remains second among the world’s causes of disability, and first among young women: findings from GBD2019. J Headache Pain 21:137
- Stubberud A, Buse DC, Kristoffersen ES et al. (2021) Is there a causal relationship between stress and migraine? Current evidence and implications for management. J Headache Pain 22:155
- Terwindt GM, Ferrari MD, Tijhuis M et al. (2000) The impact of migraine on quality of life in the general population: the GEM study. Neurology 55:624-629
- Zhang X, Levy D, Noseda R et al. (2010) Activation of meningeal nociceptors by cortical spreading depression: implications for migraine with aura. J Neurosci 30:8807-8814
Den kompletten Artikel zum Thema können Sie hier als pdf herunterladen
Hinterlasse einen Kommentar