Samstag, 28.9.2002
Hölle im Kopf – Von der Folter, die Menschen sich den Tod wünschen lässt: Migräne. Und von der Hoffnung auf ein Ende der Qualen. Ein Kieler Schmerzforscher zeigt neue Wege in der Behandlung der Volkskrankheit Kopfschmerzen.
von Klaus Podak
Explosion im Kopf, die nicht enden will. Auf-der-Welt-Sein ist Hölle, die wild pocht, pulsiert, wüst hämmert. Dasein: nichts anderes mehr als Qual, vollkommener Schmerz. Vielleicht noch Übelkeit, vielleicht Erbrechen. Dazu äußerste Lichtempfindlichkeit, Lärmempfindlichkeit. Dunkelheit, absolute Ruhe werden zu Überlebensmitteln. Das dauert drei Stunden lang – wenn das Opfer Glück hat. 72 Stunden – wenn das Opfer Pech hat. Danach macht sich die Folter davon. Zurück bleibt Angst. Denn das Opfer weiß: Die Hölle meldet sich wieder. Irgendwann. Bald.
Sie wird Boten schicken. Das Opfer kennt sie. Es missdeutet sie oft, hält sie für die Verursacher dessen, was da kommen wird. Doch der Höllenprozess hat mit ihnen längst wieder begonnen. Die Botschaften bilden sein Vorwort.
Diese Botschaften sind ganz unterschiedlich, oft sogar gegensätzlich. Sie melden sich in vielfältigen Kombinationen. Sie sprechen aus unbezwingbaren Verhaltensänderungen des Opfers. Die können in Müdigkeit bestehen, in Depressionen, Energielosigkeit, Reizbarkeit oder, im Gegenteil, in plötzlich ausbrechender Kreativität, in Hochstimmung und Rastlosigkeit. Auch so etwas Banales wie exzessives Gähnen kann eine Botschaft sein. Oder Heißhunger. Frieren oder Schwitzen ohne Ursachen in der Außenwelt. Dann glimmen die höllischen Zunder schon.
Bei einigen – man spricht von ungefähr zehn Prozent der Opfer – treten nun Phänomene auf, die mit einem feinen Wort “Aura” genannt werden. Aura bedeutete ursprünglich “Lufthauch”, später die besondere Ausstrahlung, die von einem Menschen ausgehen kann. Nichts von diesen ein bisschen feierlichen Dingen in diesem Fall. Aura, das heißt jetzt: Zickzacklinien im Gesichtsfeld, Flimmersehen, Schwindel, Kribbelmissempfindungen, Sprachstörungen, Lähmungen, Konzentrationsstörungen, Müdigkeit, sogar Bewusstlosigkeit. In fünf bis zwanzig Minuten entwickeln sich diese Störungen. Sie beherrschen ihre Opfer bis zu einer Stunde. Sofort oder nach einer kurzen Pause kommt es danach zur Attacke. Sie kann, wenn sie regelmäßig wiederkommt, das Opfer in den Selbstmord treiben. Diese Folter, die Menschen sich den Tod wünschen lässt, trägt den Namen Migräne.
Tipp in der Bäckerei
Es gab Zeiten – sie sind längst nicht vorbei -, da galt die Berufung auf dieses Leiden in der Öffentlichkeit als bequeme Ausrede zumal der Damen höherer Stände. “Nach dem Mittagessen kriegte Frau Direktor Pogge Migräne. Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat.” So steht es bei Erich Kästner in der Geschichte von “Pünktchen und Anton”. Mag ja sein, dass die Selbstdiagnose oft allein dem Ruhebedürfnis und strikter Abschirmung diente. Sie wirkte jedenfalls, wenn auch milde belächelt. Darin zeigt sich jedoch ein Respekt vor echter Migräne, gegen die eben nichts auszurichten war. Heutzutage kann man viel tun gegen die Folter Migräne. Vollständig zum Verschwinden bringen kann man sie nicht.
Migräne ist eine Krankheit, eine eigenständige Krankheit, kein Symptom von irgendetwas anderem
sagt Hartmut Göbel, der es wissen muss. Göbel, ein sanfter, ruhiger, sehr aufmerksamer Mann von 44 Jahren, ist Diplom- Psychologe und Medizinprofessor, Fachrichtung Neurologie. Er leitet als Chefarzt eine in Deutschland einzigartige Einrichtung, die Schmerzklinik Kiel, eine Modellklinik für – diese Kombination ist entscheidend – neurologisch-verhaltensmedizinische Schmerztherapie (in Kooperation mit der AOK). Denn es geht nicht allein darum, die richtigen Medikamente zu finden, das Verhalten des Patienten muss geändert werden. Der ganze, schmerzkranke Mensch muss sich ändern, selbst aktiv werden. Mit der passiven Entgegennahme ärztlicher Segnungen ist es nicht getan.
Göbels Spezialgebiet aber sind “die Kopfschmerzen”. Unter diesem Titel hat er ein 901 Seiten starkes Standardwerk veröffentlicht, das in der Fachliteratur ständig zitiert wird. Er hat aber auch ein höchst hilfreiches Standardwerk für die Betroffenen, die Kopfschmerzkranken, verfasst. In dritter, vollständig überarbeiteter und aktualisierter Auflage ist es in diesem Jahr im Springer Verlag erschienen. (Hartmut Göbel: “Erfolgreich gegen Kopfschmerzen und Migräne”, 444 Seiten, 19,95 Euro).
So viel Aufklärung über dieses Bündel der verbreitetsten Schmerzen war nie. In Deutschland leiden nach einer repräsentativen Befragung 71 Prozent der Bevölkerung im Lauf ihres Lebens zumindest zeitweise an Kopfschmerzen. Das sind rund 57 Millionen Menschen. Viele der schwer Betroffenen haben die absurdesten Karrieren hinter sich. Ihr Glück, wenn sie endlich, oft nur durch Zufall, den Weg in Göbels Schmerzklinik gefunden haben.
Marlene Völlink zum Beispiel. Fünf- bis sechsmal im Monat wurde die Bäckersfrau jahrelang von der Migräne überfallen. Zuletzt, immerhin, noch dreimal. Natürlich auch diese Überfälle unerträglich. Um sechs Uhr in der Frühe warf sie die ersten Tabletten ein, übliche Kopfschmerztabletten mit Koffein. Mittags die zweite Ladung, abends noch eine. Geholfen hat das nichts. Göbel spricht oft über einen Kopfschmerz, der von solchen Versuchen der Selbstmedikation mit Tabletten erst hervorgerufen wird.
Marlene Völlink hatte in ihrer Verzweiflung so gut wie alles probiert. Sie war bei Wunderheilern. Sie ging zur Akupunktur. Sie ließ sich den Hals einrenken. Sie verstellte die Betten im Schlafzimmer, weil angeblich Wasseradern unter dem Haus teuflischen Einfluss auf ihren Kopf nahmen. Nichts half. Dann endlich der richtige Tipp von einem Kunden ihrer Bäckerei. Fünf Monate nach ihrem Antrag wurde sie stationär in die Kieler Schmerzklinik aufgenommen. Schon nach drei Tagen der intensiven Behandlung spürte sie Erleichterung. Noch einen Anfall erlebte sie hier im Krankenhaus. Seitdem geht es ihr viel, viel besser. Sie hofft, dass es so bleibt.
Allein die korrekte Diagnose des Kopfschmerztyps ist kein Kinderspiel. Wenn man Hartmut Göbel zuhört, dann begreift man erst, warum eine so hoch spezialisierte Klinik, in der Diagnose, Therapie und Forschung Hand in Hand gehen, überhaupt notwendig ist. Die Fachleute unterscheiden mit Göbel heute mehr als 165 verschiedene Kopfschmerzformen. Bei der Migräne allein sind achtzehn Unterformen identifiziert worden. Kein noch so einfühlsamer Hausarzt kann in den schweren Fällen das alles auseinander halten, richtig und sicher diagnostizieren, wirkungsvoll therapieren. Schon die Zeit fehlt ihm dazu. Wie soll er dann außerdem noch die unerlässliche Verhaltensänderung mit den Patienten einüben und kontrollieren?
Wie beim Sonnenbrand
Menschen, die unter Migräne leiden, sind oft sehr sensibel, empfindlich, reizbar im positiven Sinn und perfektionistisch. Sie übernehmen gern Verantwortung und fühlen sich dann auch für alles verantwortlich, zu sehr verantwortlich. Damit ist aber keineswegs einer rein psychologisch argumentierenden Ursachenforschung das Wort geredet. Menschen mit diesen Eigenschaften sind einer auch genetisch bedingten Disposition ihres Nervenkostüms unterworfen, die sie anfällig macht für ganz bestimmte körperliche Veränderungen, die sich in den Attacken der Migräne manifestieren. Göbel greift zur Illustration der Verhältnisse zum Beispiel des Sonnenbrands. Niemand muss ihn bekommen. Aber Individuen, die einen bestimmten Hauttyp mitbekommen haben, kriegen ihn einfach leichter, wenn sie sich der Sonne aussetzen.
Ihren Perfektionismus gesteht zum Beispiel Göbels Migräne-Patientin Andra Sprotte-Putnins freimütig ein. Sie ist, nein, sie war Lehrerin (Deutsch und evangelische Religion). Denn im Alter von 44 Jahren musste sie in die Frühpensionierung, Nierenschädigungen durch exzessive Behandlungsversuche mit Tabletten inklusive. Sie erlebte den ersten Anfall der Krankheit, als sie 30 war, zwei-, dreimal im Jahr. In den Achtzigerjahren waren es dann schon sechs bis sieben Attacken. Seit 1995 hatte sie zwölf Schmerztage monatlich. Sie bekam schließlich Triptane, die Klasse der modernsten Schmerzmittel gegen Migräne. Auch die halfen nicht mehr. Die Krankheit führte, das ist bei vielen Migränikern so, zu einer als bitter erlebten Verminderung ihrer sozialen Kontakte. Ein engagierter Apotheker riet ihr zu der Kieler Klinik: drei Monate Wartezeit, dann die Aufnahme für die üblichen drei Wochen stationär, eine Woche Verlängerung. Erst einmal Schmerzmittelpause, dann bekam sie Antidepressiva, die manchmal gut wirken bei Migräne, ohne dass die Patienten wirklich depressiv sind. Sie hat gelernt, dass sie ihr perfektionistisches Verhalten ändern muss. Sie will das, was sie in Kiel gelernt hat, zu Hause längerfristig weiter trainieren. Ihr leuchtet Göbels ganzheitlicher Ansatz völlig ein. Vielleicht wird sie die Migräne nicht vollständig überwinden können. “Aber”, sagt sie, “man lernt, anders damit umzugehen.”
Migräne ist eine komplexe Erkrankung. Das allen ihren Formen gemeinsame Geschehen aber hat Göbel in wenigen Sätzen zusammengefasst: “Grundlage für die wiederkehrenden Schmerzattacken ist eine erhöhte Empfindlichkeit des Nervensystems für plötzlich auftretende äußere oder innere Reizeinwirkungen. Diese besondere Empfindlichkeit ist durch die angeborene Erbinformation mitbedingt. Dadurch wird bei starken Reizveränderungen eine übermäßige Freisetzung von Nervenübertragungsstoffen im Gehirn ausgelöst. Folge ist eine schmerzhafte Entzündung an Blutgefäßen des Gehirns.”
Alles ist ineinander verschränkt: Die extreme Reizbarkeit des Gehirns ist angeboren. Wird ihr durch Verhalten nachgegeben und gefolgt, kommt es zu einer körperlichen Reaktion des Gehirns, der übermäßigen Freisetzung von Botenstoffen. Die greifen Blutgefäße an. Es kommt zur Entzündung. Wohlgemerkt: Der Anfall ist keine Erkrankung des Gehirns selbst. Das Gehirn verfügt im Übrigen auch gar nicht über ein Schmerzempfinden seiner selbst. Die Entzündung betrifft das Gehirn versorgende Blutgefäße. Das erklärt auch den pochenden, hämmernden Schmerz, der bei der geringsten Anstrengung stärker wird. Denn der dann schneller pulsierende Blutstrom bedrängt rhythmisch die entzündeten Stellen.
Generell: mehr genießen
Klar wird nun auch, warum das Verhaltenstraining eine so entscheidende Rolle spielt. Es geht darum, die Reizüberflutung in den Griff zu bekommen, sich ihr nicht mehr auszuliefern, sei es durch übertriebene Aufmerksamkeit noch auf die kleinsten Veränderungen in der umgebenden Welt, sei es durch den perfektionistischen Versuch, die anstürmenden Eindrücke vollständig unter eine sie bewältigende Kontrolle zu bekommen.
In einem Merkblatt zur Schmerzbewältigung, das in Kiel ausgegeben wird, werden zehn Punkte genannt, wie man mit sich umgehen sollte. Am Rand der Aufstellung werden sie so zusammengefasst: “Generell: mehr genießen . . .”
Bis es dazu kommen kann, durchlaufen die Klienten der Schmerzklinik eine Fülle von Kursen. Die progressive Muskelentspannung wird geübt, natürlich. Denn vielen der kranken, angespannten Reizverarbeiter ist das Gefühl dafür verloren gegangen, wie sich ihr Körper verhält, wie er sich verhalten könnte – genussvoll eben.
Wahrnehmung wird auch auf der rein mentalen Ebene des Vorstellungsvermögens, der Phantasie, eingeübt. Frei gewählte Ruhebilder sollen mit geschlossenen Augen imaginiert werden. Eine Frau sieht Wasser vor sich, eine andere ein Haus. Eine dritte versucht angestrengt einen Wald mit zwitschernden Vögeln hervorzurufen. Sie strengt sich zu sehr an. “Das kann ich nicht halten”, sagt sie enttäuscht. Sacht wird sie von der Therapeutin ermuntert, es noch einmal oder auch mit einem anderen Bild auszuprobieren. Jetzt wird es eine Blumenwiese, mit leichtem Wind, Wolken darüber. Diese scheinbar so einfachen Übungen sind für die Patienten gar nicht einfach. Sie müssen sich Schritt für Schritt neue, ihnen ganz ungewohnte Dimensionen der Erfahrung und das heißt Selbsterfahrung, erobern.
In der Physiotherapie fahnden Kopfschmerzkranke unter der Anleitung von Holger Reinicke nach Bewegungsfehlern. Schmerz verändert auch die Bewegungsmuster. Sie werden pathologisch. Sie sollen wieder in Ordnung gebracht werden. Das geht nur individuell, nicht nach einem für alle gleichen Reglement. Eine wichtige Erfahrung dabei zusätzlich, meint Reinicke: “Die passive Einstellung – Mach mich gesund! – funktioniert nicht.” Gelernt soll werden, dass man selbst etwas tun muss. Auch mit dem Schmerz, wenn er denn doch manchmal wiederkommt, muss jeder bewusst selbsttätig umgehen.
Dann gibt es noch das Migräneseminar. Ein Arzt erklärt die Krankheit, spricht über Auslösefaktoren, über Strategien, ihnen zu entkommen. Letztlich geht es um eine Veränderung des Lebensrhythmus. Die in Kiel überall ständig mitlaufende Botschaft ist schlicht. Nur ist sie nicht ganz einfach umzusetzen: Du musst dein Leben ändern!
Hintergrund: Hartmut Göbel
Hartmut Göbel ist die letzte Hoffnung für viele, die an unerträglichen, neurologisch bedingten Schmerzen leiden. Der Medizinprofessor und Psychologe ist Chef der Schmerzklinik in Kiel, in der in 50 Betten chronisch Kranke stationär behandelt werden. Göbels Spezialgebiet sind Kopfschmerzen, vor allem die Migräne. Ihrer Erforschung gilt ein wesentlicher Teil seiner Arbeit. Wichtig ist es ihm, die Ergebnisse seiner Untersuchungen auch einem großen Publikum in Ratgeberform zugänglich zu machen.