Ein Interview von Maria Berentzen für web.de

Herr Professor Dr. Göbel, es soll eine Art Impfung gegen Migräne auf den Markt kommen. Um was genau handelt es sich dabei?

Professor Dr. Hartmut Göbel: Bei einer klassischen Impfung, beispielsweise gegen Masern oder Kinderlähmung, werden abgetötete oder abgeschwächte Erreger verabreicht. Darauf reagiert der Körper, indem er Antikörper gegen diese Erreger bildet.

Bei der neuen Migränetherapie sprechen wir von einer passiven Immunisierung. Das bedeutet, dass die Patienten die Antikörper nicht selbst bilden. Sie erhalten stattdessen Antikörper, die im Labor hergestellt worden sind.

Wie wirken diese Antikörper?

Sie greifen direkt in den Mechanismus der Migräne ein und stoppen ihn, noch bevor es zum Anfall kommt. Man hat festgestellt, dass bei einem Anfall bei vielen Patienten ein bestimmter Entzündungsstoff freigesetzt wird, der abgekürzt als CGRP bezeichnet wird.

Er wirkt lokal an den Arterien und führt dazu, dass sich die Haut in den Blutgefäßen entzündet und diese sich erweitern. Das führt dazu, dass die Patienten bei einem Anfall oft jede Pulswelle als ein schmerzhaftes Pochen und Klopfen verspüren.

Und dagegen wirkt die passive Immunisierung?

Ja. Wenn es gelingt, den Botenstoff CGRP zu blockieren, dann kommt es nicht zur Entzündung. Auf diese Weise wird ein Migräne-Anfall gar nicht erst ausgelöst.

Wann wird diese neue Behandlung verfügbar sein?

Aktuell sind die Studien abgeschlossen und die Zulassung ist für zwei Wirkstoffe beantragt worden.

In der Fachwelt geht man davon aus, dass die Behandlung voraussichtlich ab der zweiten Jahreshälfte 2018 möglich ist.

Wird man damit alle Betroffenen von ihrer Migräne befreien können?

Leider nicht. Bei CGRP handelt es sich nur um einen der Stoffe, der bei einem Migräne-Anfall eine Rolle spielt.

Den Betroffenen, bei dem CGRP nicht die Hauptrolle spielt, wird man mit dieser Immuntherapie leider kaum oder gar nicht helfen können. In den Studien gingen aber bei rund einem Drittel bis zur Hälfte der Betroffenen die Kopfschmerztage deutlich zurück.

Man sollte aber nicht erwarten, dass man mit der Behandlung „immun“ gegen Migräne wird und man leben kann wie man will, ohne Attacken zu bekommen.

Wie kommt es überhaupt zu einem Anfall? Sind die Mechanismen, die dabei eine Rolle spielen, alle bekannt?

Man weiß inzwischen, dass die Risikobereitschaft für Migräne genetisch bedingt ist. Betroffene können Reize sehr intensiv wahrnehmen und schnell darauf reagieren.

Dadurch hat ihr Gehirn aber auch einen hohen Energieverbrauch. Die Betroffenen sind damit eigentlich ständig an ihrer Leistungsgrenze. Kommen jetzt noch Verhaltensweisen oder Ereignisse dazu, die das Nervensystem zu schnell, zu stark und zu nachhaltig aktivieren, kann ein Energiedefizit in den Nervenzellen entstehen, woraus sich ein Migräne-Anfall entwickeln kann.

Wichtig ist deshalb, dass Betroffene ihr Leben möglichst gleichmäßig gestalten, regelmäßig essen und jede Form der zu schnellen und zu übermäßigen Aktivierung vermeiden.

Was war das Problem mit den bisherigen Medikamenten bei Migräne?

Bislang gab es wenige Möglichkeiten, einen Anfall vorzubeugen. Es gibt zwar spezifische Medikamente, die gegen Schmerzen bei einem Anfall wirken, die Triptane. Sie unterdrücken aber nur die Schmerzen und wirken nicht gegen die Mechanismen, die einem Anfall zugrundeliegen.

Wenn Patienten unter häufigen Migräneattacken leiden, gibt es auch Medikamente, die einen Anfall vorbeugen sollen. Sie wirken aber nicht bei allen Patienten und sind nicht spezifisch gegen Migräne entwickelt worden. Sie haben auch eine Reihe von Nebenwirkungen, so dass viele Patienten sie nicht dauerhaft nehmen wollen.

Hinsichtlich der Wirksamkeit gibt es bisher noch keine Vergleichsstudien, die die Wirkung der neuen Immuntherapie mit der Effektivität der bisherigen Therapien vergleichen.

Und welche Nebenwirkungen hat die passive Immunisierung? Vorstellbar ist ja durchaus, dass es Nebeneffekte gibt, wenn man einen Botenstoff im Körper dauerhaft blockiert.

Im Vordergrund stehen Schmerzen an der Injektionsstelle und Entzündungen im Nasenrachenraum. Die Nebenwirkungen sind meist mild. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass es sich um eine völlig neue Therapie handelt.

Studien mit Langzeiterfahrungen sind bisher nicht veröffentlicht. CGRP ist der potenteste körpereigene Stoff, der eine Gefäßerweiterung bewirkt. Es ist nicht bekannt, wie sich die dauernde Hemmung dieses Stoffs auswirkt.

Wie häufig müsste man sich behandeln lassen?

Die Behandlung erfolgt in der Regel im Abstand von vier Wochen, bei einer der Substanzen möglicherweise auch alle drei Monate.

Es wird auch untersucht, ob Patienten sich selbst behandeln können, damit sie dafür nicht jeden Monat in eine Klinik kommen müssen.

Falls man auf die Behandlung anspricht: Reicht es dann, sich gegen Migräne „impfen“ zu lassen – und dann ist man alle lästigen Symptome los?

Leider nein. Das ist ein Trugschluss. Das Gehirn bleibt weiterhin äußert empfindlich gegenüber Reizen. Wer sein Leben nicht daran anpasst, nicht auf Regelmäßigkeit achtet, der wird kaum einen befriedigenden Verlauf erzielen.

Vielleicht bekommt er dann nicht sofort eine Migräne, aber wird sich dafür dann dauerhaft sehr erschöpft fühlen. Regelmäßigkeit, Entspannung und sorgfältiger Umgang mit den persönlichen Energiereserven bleiben für die Betroffenen weiterhin wichtig.

Weitere Informationen zum Thema: Immuntherapie mit CGRP-Antikörpern reduziert Anzahl der Kopfschmerztage