Die Krankheiten Kopfschmerz und Migräne beeinträchtigen nicht nur das Leben der Betroffenen, sondern verursachen auch volkwirtschaftliche Schäden. Neu entwickelte Antikörper greifen speziell in den molekularen Entstehungsprozess der Migräne ein und können damit präventiv die Wahrscheinlichkeit für Migräneattacken reduzieren.

Von Hartmut Göbel

 

Jeden Tag leiden allein in Deutschland etwa 900000 Menschen an Migräneattacken, 100000 Menschen sind tagtäglich aufgrund von Migräneanfällen arbeitsunfähig und bettlägerig. Damit belegt Migräne weltweit hinter Karies und Kopfschmerzen den dritten Platz der häufigsten Erkrankungen beim Menschen, Migräne ist der wichtigste Grund für eine Behinderung bei unter 50-Jährigen. Im Mittel nehmen drei Millionen Deutsche jeden Tag eine Kopfschmerztablette per Selbstmedikation ein. Darüber hinaus werden täglich bundesweit fast 60.000 Triptan-Einzeldosen, spezielle Migräne-Akutmedikamente, zur Behandlung von Migräneattacken verwendet. Auch volkswirtschaftlich macht sich die Krankheit bemerkbar: Kopfschmerzen zählen zu den häufigsten Gründen für eine kurzfristige Arbeitsunfähigkeit. Allein die deutschlandweit durch Migräne bedingten Fehltage pro Jahr entsprechen der Jahresarbeitszeit von 185.000 Vollerwerbstätigen – mit geschätzten Kosten von 3,5 Milliarden Euro. Hinzu kommt der Produktivitätsverlust nicht bezahlter Arbeit im Haushalt, in der Kindererziehung oder in der Pflege Angehöriger. Das Risiko für Herzkreislauferkrankungen, Herzinfarkt und Schlaganfall ist 1,5- bis zweimal höher als bei Gesunden, das Risiko, eine Depression zu bekommen, an einer Angsterkrankung zu leiden oder Suizid zu begehen, ist bei Migränepatienten sogar drei- bis siebenmal höher. Die jährlichen Gesamtkosten von Kopfschmerzen bei 18- bis 65-Jährigen belaufen sich in Europa auf über 170 Milliarden Euro. Und dabei werden europaweit immer noch weniger als zwanzig Prozent der Betroffenen ärztlich versorgt, weniger als zehn Prozent erhalten eine leitliniengerechte Prävention oder Akuttherapie.

 

Genvarianten erhöhen das Krankheitsrisiko

Nun haben neue Studienergebnisse gezeigt, dass Migränepatienten in ihren Erbanlagen zahlreiche Besonderheiten aufweisen. Mittlerweile sind 38 Genorte mit 44 Genvarianten bekannt, die das Risiko erhöhen, Migräne zu bekommen. Diese Genvarianten sind für die Reizübertragung, Reizempfindlichkeit und Reizverarbeitung zuständig. Darüber hinaus steuern sie die Regulation der Energieversorgung von Nervenzellen und Arterienwänden. Diese Ummantelungen der Adern sind das größte endokrine Organ, in dem zahlreiche Botenstoffe produziert werden, die die Durchblutung steuern, aber auch Entzündungsreaktionen regulieren. Hier werden außerdem viele Substanzen aktiviert, die für wichtige Steuerungsvorgänge im Körper relevant sind. Eine Störung der Energieversorgung zum Beispiel durch oxidativen Stress kann diese Regulation aus dem Gleichgewicht bringen und Fehlfunktionen auslösen. Bei der Entstehung von Migräneattacken spielen daher sowohl die Erbanlagen als auch Umweltfaktoren, Verhaltensweisen und soziale Faktoren eine maßgebliche Rolle. Tritt nun eine Fehlsteuerung der Nervenfunktion auf, können Entzündungsstoffe an den Arterien der Hirnhäute freigesetzt werden, die zu einer verstärkten Empfindlichkeit der Hirnhäute führen. Jeder Pulsschlag verursacht einen pochenden, hämmernden Schmerz, jede Bewegung des Schädels tut weh. Deshalb versuchen Migränepatienten, sich nach Möglichkeit hinzulegen, körperliche Tätigkeiten stark einzuschränken und Erschütterungen zu vermeiden.

 

Antikörper können Migräneattacken vermindern

In den vergangenen Jahren ist es gelungen, spezifische Antikörper gegen Botenstoffe zu entwickeln, die die Entzündung während eines Migräneanfalles auslösen. Im Mittelpunkt steht dabei das Calcitonin Gene-Related Peptide, kurz CGRP, das zu den stärksten gefäßerweiternden Substanzen gehört und eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Migräne spielt. Bekommt der Patient sogenannte monoklonale Antikörper, kann die Wirkung dieser Entzündungsstoffe für einige Wochen gestoppt und damit die Wahrscheinlichkeit für Migräneattacken reduziert werden. Mittlerweile wurden die Antikörper Erenumab, Galcanezumab, Fremanezumab und Eptinezumab entwickelt, die direkt gegen CGRP wirken oder den Rezeptor für CGRP blockieren. Die vier Wirkstoffe wurden in zahlreichen groß angelegten, internationalen Studien getestet und ihre Wirksamkeit belegt. So liegen Studiendaten für die episodische Migräne mit bis zu 14 Migränetagen pro Monat und für die chronische Form mit mehr als 15 Migränetagen pro Monat vor. Untersucht wurde dabei unter anderem, ob die neuen Antikörper auch bei Patienten wirken, die auf die bisher zugelassenen Medikamente zur Vorbeugung nicht ansprachen. Vergleichende Studien mit den bisherigen vorbeugenden Medikamenten liegen allerdings noch nicht vor. Die Jahrestherapiekosten werden vermutlich zwischen 6000 und 10000 Euro liegen, doch zurzeit steht noch nicht fest, für welche Migräneformen und für welche Patienten die Kosten von den Krankenkassen erstatten werden. Um das Wirtschaftlichkeitsgebot zu erfüllen, wird die neue Immuntherapie sicherlich erst dann in Frage kommen, wenn die bisher verfügbaren Migränemittel bei einem Patienten nicht effektiv sind, nicht vertragen werden oder wegen Kontraindikationen nicht eingenommen werden dürfen. Als erstes der vier Antikörper wurde Erenumab im Juli in Deutschland zugelassen und wird ab November dieses Jahres in Apotheken erhältlich sein.

 

Immuntherapie speziell für die Migräneprophylaxe

Der Antikörper wird mit Hilfe eines Autoinjektors, ähnlich einem Insulin-Pen, im Abstand von vier Wochen injiziert. Da es sich bei dieser Immuntherapie um eine passive Immunisierung handelt, bei der die Antikörper nicht selbst im Körper gebildet, sondern im Labor hergestellt werden, muss die Injektion regelmäßig wiederholt werden. Die neue Therapie ist im Gegensatz zu allen anderen bisher verfügbaren Arzneimitteln, die zur Vorbeugung genommen werden, erstmals speziell für die Migräneprophylaxe entwickelt worden. Eine langsame Aufdosierung aufgrund von Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen ist nicht erforderlich. Die Wirkung tritt innerhalb weniger Tage ein, bei den bisher erhältlichen, vorbeugenden Medikamenten wird die Wirkung oft erst nach Wochen oder gar Monaten erreicht. Nebenwirkungen wie zum Beispiel Gewichtszunahme, Stimmungsveränderung, Müdigkeit, Antriebsreduktion oder Benommenheit treten nicht auf. Im Gegensatz zu den bisherigen Arzneien, die häufig schon nach kurzer Zeit wegen dieser Nebenwirkungen abgesetzt werden, bleiben die behandelten Patienten aufgrund der guten Verträglichkeit und Wirksamkeit nachhaltig bei diesem Therapieprinzip. Allerdings zeigen die bisher verfügbaren Daten, dass die Migräne mit der neuen Immuntherapie nicht gestoppt, sondern lediglich das Risiko für Attacken gesenkt wird: Im Mittel erfolgt eine Reduktion der Kopfschmerzen um circa ein bis drei Tage pro Monat. Damit ist die Wirksamkeit der neuen Impfung ähnlich wie bei bisher verfügbaren Medikamenten, die vorbeugend genommen werden. Jedoch überwiegen die Vorteile: Die Wirkung tritt schnell ein, das Medikament wird gut vertragen und selbst Patienten, denen andere Behandlungen nicht weiterhalfen, sprechen auf die Therapie an. Daher kann in Zukunft sicher vielen weiteren Patienten geholfen werden, die belastenden Migräneattacken zu reduzieren, um so zu einem relativ normalen Leben zurückzukehren.

 

Professor Dr. med. Dipl.-Psych. Hartmut Göbel, Facharzt für Neurologie, ist Gründer und Direktor der Schmerzklinik und des Migräne- und Kopfschmerzzentrums in Kiel. Er ist zudem Initiator und Leiter des bundesweiten Kopfschmerzbehandlungsnetzes.

Artikel in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.10.2018