In einem aktuellen Artikel in der Fachzeitschrift Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement analysiert ein Team von Kopfschmerzexperten und Gesundheitsökonomen den möglichen ökonomischen Nutzen der Selbstmedikation für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in Deutschland am Beispiel von Migräne und Kopfschmerzen. Migräne und andere Kopfschmerzformen zählen epidemiologisch zu den häufigsten und nach Demenz und Schlaganfall zu den drittteuersten Erkrankungen des Nervensystems. Sie sind einer der häufigsten Gründe für Arztbesuche, stationäre Notfallaufnahmen und bedingen schwerwiegende Behinderungen und Komplikationen. Weltweit leiden im Erwachsenenalter mehr als 46% der Bevölkerung an einer aktiven Kopfschmerzerkrankung, 11% an Migräne, 42% an Kopfschmerzen vom Spannungstyp und 3% an täglich auftretenden Dauerkopfschmerzen. Auf der Rangliste der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der am meisten behindernden Erkrankungen nehmen Kopfschmerzen für beide Geschlechter den 10. Platz und für Frauen den 5. Platz ein.

Fasst man die Daten zur Einjahresprävalenz von Kopfschmerzen im Erwachsenenalter in Europa zusammen, leiden 51% an Kopfschmerzen, 14% an Migräne und 4% an chronischen (d.h. an mehr als 15 Tagen pro Monat bestehenden) Kopfschmerzen. Kopfschmerzen belasten besonders die produktiven Zeitspannen des Lebens zwischen dem 20 bis 60 Lebensjahr. Gesundheitsökonomische Studien zeigen, dass mehr als 15% der Erwachsenen durch Kopfschmerzen im vergangenen Jahr arbeitsunfähig waren. In der Europäischen Union verursachen Kopfschmerzen im Erwachsenenalter zwischen 18-65 Jahren jährliche Kosten von 173 Milliarden Euro. Für Deutschland finden sich vergleichbare epidemiologische Daten.

Es werden heute über 363 verschiedene Hauptdiagnosen von Kopfschmerzen unterschieden. Die Kopfschmerzerkrankungen können dabei sehr unterschiedliche Schweregrade einnehmen. Eine ursächliche Behandlung der meisten Kopfschmerzformen ist derzeit nicht möglich, es stehen jedoch unterschiedliche symptomatische Therapien zur Verfügung. Diese schließen die vorbeugende und die akute Behandlung von Kopfschmerzanfällen ein. Als Mittel der Wahl für die Akutbehandlung der Migräne stehen heute sieben verschiedene Triptane zur Verfügung. Nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) einschließlich Acetylsalicylsäure und andere Non-Opioid-Analgetika werden sowohl in der Akuttherapie der Migräne als auch der Kopfschmerzen vom Spannungstyp eingesetzt.

Die Selbstmedikation von Kopfschmerzen stellt die häufigste Akutbehandlungsform dar. Rund 91% der Migränepatienten und 90% der Patienten mit Kopfschmerz vom Spannungstyp nutzen Schmerzmittel im Rahmen der Selbstmedikation, häufig ohne weitere Behandlung und ärztliche Beratung. Kopfschmerzen als Volkskrankheit mit gravierenden direkten und indirekten Kosten sind nicht nur für den einzelnen Betroffenen sondern auch für die Gesellschaft und die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) von hoher Relevanz. Welche Rolle die Selbstmedikation bei der Einsparung von Kosten für das Gesundheitssystem spielen kann, ist bisher nicht untersucht worden, obwohl gerade bei Kopfschmerzen Selbstmedikation weltweit etabliert ist und die Zufriedenheit mit der Therapie mit verschreibungsfreien Arzneimitteln groß ist.

Die Autoren haben erstmals in einer empirischen Studie den möglichen ökonomischen Nutzen der Selbstmedikation für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in Deutschland am Beispiel Migräne und Kopfschmerzen analysiert. Die zu untersuchenden ökonomischen Aspekte werden dabei auf die direkten Kosten beschränkt, d.h. die Kosten der ärztlichen Behandlung und die Kosten durch Arzneiverordnungen.

Die Analyse basiert auf einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung an GKV-Versicherten zu Häufigkeit, Symptomatik und Verhalten bei Migräne und Kopfschmerzen. Es wurde das durch Arztbesuche aufgrund von Kopfschmerzen und Migräne zusätzlich ausgelöste Pauschalen-Volumen sowie die zu erwartenden Verordnungskosten bei Wegfall der Selbstmedikation ermittelt. Dabei wurden die im Jahr 2013/2014 gültigen Bedingungen für die Abrechnung von ärztlichen Leistungen und Arzneimittelverordnungen berücksichtigt.

Bei Wegfall der Selbstmedikation ergeben sich jährliche Mehrkosten für Arztbesuche ohne Gesprächspauschalen bis zu 696,8 Mio. Euro, mit Ansatz der Gesprächspauschale bis zu 832,9 Mio. Euro. Unter Berücksichtigung wegfallender Kosten errechnen sich Nettomehrkosten für Arzthonorare bis zu 707,8 Mio. Euro. Hinzu kommen jährliche Arzneimittel-Verordnungskosten in Höhe bis zu 393,2 Mio. Euro. Die Selbstmedikation von Migräne und Kopfschmerzen führt zu jährlichen maximalen Einsparungen für die GKV zwischen 964,9 Mio. und 1101,0 Mio. Euro durch nicht verordnete Medikamente und vermiedene Arztbesuche.

Prof. Hartmut Göbel, Erstautor der Studie und Chefarzt der Schmerzklinik Kiel, sagte, dass Selbstmedikation bei Fehl- oder Übergebrauch auch Komplikationen und zusätzliche Kosten bedingen kann. „Fehl-, Übergebrauch und Komplikationen können jedoch auch bei Verordnung der Arzneimittel auftreten. Die häufigsten Medikamentenklassen die Übergebrauchskopfschmerzen verursachen sind nach einer aktuellen Analyse Opioide, Kombinationsanalgetika mit psychotropen Kombinationspartnern und Triptane. Da jedoch gerade verschreibungungspflichtige Medikamentenklassen häufig Auslöser von Übergebrauchskopfschmerzen sind, könnte der Wegfall der Selbstmedikation weitere Kosten durch Fehl- und Übergebrauch bewirken.“

Die Studie untersuchte erstmals die gesundheitsökonomischen Auswirkungen der Selbstmedikation in der Behandlung von Migräne und Kopfschmerzen. Ein großer Teil der Betroffenen behandelt Migräne und Kopfschmerzen außerhalb der GKV mit rezeptfreien Arzneimitteln. Unter den definierten Voraussetzungen bedingt dabei die Selbstmedikation von Migräne und Kopfschmerzen eine jährliche Ersparnis für die GKV von rund 1 Milliarde Euro, spart Zeit und Wege seitens der Betroffenen durch Vermeidung von Arztbesuchen und stabilisiert die Versorgung anderer Erkrankungen durch Entlastung der ärztlichen Praxen. Selbstmedikation von Migräne und Kopfschmerzen bedingt damit einen wichtigen gesundheitsökonomischen Nutzen für die Versichertengemeinschaft.

Quelle:

Göbel H, Braun J, Petersen-Braun M, Gessner U. Pharmakoökonomischer Nutzen der Selbstmedikation in Deutschland – Empirische Untersuchung am Beispiel von Migräne und Kopfschmerzen. Gesundh ökon Qual manag, DOI: 10.1055/s-0035-1553042, Publikationsdatum: 1.Juni 2015 (eFirst)

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Fachzeitschrift Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement