Der Empfehlung, regelmäßig moderaten Ausdauersport zu betreiben, kann sich kaum ein Patient entziehen, egal ob er unter Bluthochdruck, Diabetes, Depressionen oder Migräne (1-4) leidet. Wer kann sich nicht an die allgegenwärtige Gesundheitskampagne „Trimming 130 – Bewegung ist die beste   Medizin“ der Trimm Dich-Bewegung (5) aus den 80iger Jahren erinnern? Dem Mainstream-Druck standzuhalten und wie Winston Churchill auf die Frage nach dem Geheimrezept für sein langes Leben zu antworten: „No sports!“ erfordert da schon einiges an Selbstbewußtsein (6).

Dennoch bleibt die Frage berechtigt, worauf die apodiktische Empfehlung des Ausdauersports bei Migräne überhaupt beruht? In der evidenzbasierten Medizin gelten Studien, in denen ein neues Therapiekonzept doppel-blind gegen Placebo oder die Standardtherapie getestet werden, als das Nonplusultra. Das kann soweit führen, dass innovative operative Therpieverfahren gegen Placebo-Eingriffe getestet werden, bei denen nur Narkose, Hautschnitt und Naht erfolgen (7). Unabhängig von ethischen Überlegungen bei einem solchen Vorgehen, wird man die Effektivität eines nichtmedikamentösen Therapieverfahrens wie Ausdauersport nie mit dem gleichen Evidenzgrad belegen können. Eine Verblindung des Patienten ist bei einem Ausdauersport einfach nicht möglich. Dabei wäre die Vorstellung eines Ausdauersports, der vom aktiven Patienten nicht als solcher wahrgenommen würde, quasi paradiesisch. Eine Sporttherapie kann allenfalls offen (aus Sicht des Patienten) mit anderen Therapieformen vergleichen werden.

Hilft Sport gegen Migräne?

Exemplarisch für die Studienlage sollen 2 Untersuchungen der letzten Jahre vorgestellt werden. Eine brasilianische Arbeitsgruppe verglich im Jahr 2014 bei Patienten mit chronischer Migräne die alleinige Behandlung mit dem trizyklischen Antidepressivum Amitriptylin mit einer Kombination aus Amitriptylin plus einem aeroben Sportprogramm (8). In Anbetracht der schweren Betroffenheit der Patienten (mindestens 15 Migränetage im Monat angeblich ohne, tatsächlich aber mit Medikamentenübergebrauch!) war die gewählte Amitriptylindosis mit 25 mg sehr niedrig. Die deutschen Therapieleitlinien der DGN empfehlen eine Tagesdosis von 50-150 mg (4). Auch das Sportprogramm stellte eine eher moderate Belastung dar: 40 Minuten schnelles Gehen 3 x / Woche über 3 Monate. 50 von 60 gestarteten Patienten hielten bis zum Ende durch (26 von 30 in der Amitriptylin-Gruppe und 24 von 30 in der Gruppe Amitriptylin + Sport). Das Ergebnis war erstaunlich. Amitriptylin 25 mg allein reduzierte die Migränehäufigkeit nach 3 Monaten von ursprünglich durchschnittlich 25 Tagen/Monat auf 13 Tage/Monat. Wurde zusätzlich „schnell gegangen“ sank die Migränehäufigkeit im Monat von 23 Tagen auf 5 Tage. Noch deutlicher war die Abnahme der Einnahme von Schmerzmitteln. In der Amitriptylin-Gruppe wurden nur noch an 3 Tagen im Monat (statt an 20 Tagen=Übergebrauch!) und in der Kombinationsgruppe Amitriptylin + Sport sogar nur noch an einem Tag im Monat statt an 16 Tagen (=Übergebrauch) Schmerzmittel eingenommen. Die Effektivität der Kombination aus Sport und Amitriptylin war dabei Amitriptylin allein signifikant überlegen. Hinzukam, dass der Sport einer Gewichtszunahme durch das appetitsteigernde Amitriptylin (BMI +1 in der Amitriptylin-Gruppe) entgegenwirkte und es in der Kombinationsgruppe Amitriptylin + Sport sogar zu einer Gewichtsreduktion kam (BMI -1)! Diese Ergebnisse übertrafen die kühnsten Erwartungen eines jeden Kopfschmerztherapeuten. Generell gilt schon eine Migränereduktion um 30% bei einer chronischen Migräne als erstrebenswertes (und nicht selten verfehltes) Ziel. Noch nie konnte in einer kontrollierten Studie eine so niedrige Amitriptylindosis eine (chronische) Migräne (mit Medikamentenübergebrauch) derart bessern. Die Ergebnisse widersprechen jeder Erfahrung und untergraben damit die Glaubwürdigkeit der gesamten Studie, so dass diese kaum noch als Plädoyer für Sport bei Migräne taugt.

Wesentlich realstischer erscheint das Ergebnis einer schwedischen Arbeitsgruppe aus dem Jahr 2011, die Ausdauersport gegen ein Entspannungstraining und gegen Topiramat bei 91 Migränepatienten getestet hatte (9). Anders als in der vorgenannten Amitriptylin-Studie wurde für das Topiramat keine feste Dosis vorgegeben, sondern die Dosis entsprechend der Verträglichkeit zwischen 25 und 200 mg individuell gewählt. Das Sportprogramm bestand aus einem 40minütigem Training dreimal wöchentlich mit 15 Minuten Aufwärmen, 20 Minuten Ergometertraining und 5 Minuten Abkühlen. Nach 3 Monaten war in allen 3 Gruppen praktisch identisch die Attackenhäufigkeit um durchschnittlich eine Attacke pro Monat (-25%) zurückgegangen. Unerwünschte Ereignisse traten nur in der Topiramatgruppe auf (33% der Patienten), in der über den bekannten appetitmindernden Effekt auch die Gewichtsreduktion (-1,3 kg) größer war als in der Sportgruppe (-0,5 kg), während in der Entspannungsgruppe das Gewicht sogar zunahm (+1,0 kg). Diese kleine, aber sorgfältig durchgeführte Studie zeigte damit, dass mit zwei nichtmedikamentösen Therapieverfahren ein ähnlicher Erfolg erzielt werden kann, wie mit einem potenten, aber auch nebenwirkungsträchtigen Medikament. Gerade der Ausdauersport erforderte jedoch für dieses Ergebnis nicht nur tatsächliche Ausdauer, sondern auch einen nicht unbeträchtlichen Zeitaufwand.

Kann Sport Migräne auslösen?

Die Empfehlung für Ausdauersport wird aber nicht von allen Patienten widerspruchslos hingenommen. Häufig hört man das Argument, Sport wäre im Gegenteil gerade ein zu meidender Auslöser von Migräneattacken. Eine niederländische Arbeitsgruppe ging im Jahr 2013 diesem Argument nach und befragte 103 Patienten einer Kopfschmerzambulanz retrospektiv hinsichtlich ihrer Erfahrungen mit Sport als Trigger von Migräneattacken (10). Nicht weniger als 38% der Patienten kannten Migräneattacken, die innerhalb von 48 Stunden nach einer sportlichen Aktivität begonnen hatten; bei mehr als der Hälfte der Betroffenen lag der Kopfschmerzbeginn noch während des Sports. Als problematische Sportarten wurden vor allem Laufen und Tennis genannt. Immerhin die Hälfte der Betroffenen gaben aufgrund dieser Erfahrung intensivere sportliche Aktivität auf. Jedoch berichtete die Mehrzahl der Patienten, dass eine sportliche Aktivität geringerer Intensivität unproblematisch sei.

Schlussfolgerung

Auch wenn die Studienlage vor allem aus methodischen Problemen nicht vollends überzeugen kann, spricht doch vieles dafür, dass Ausdauersport Migräneattacken vorbeugen kann. Der Effekt ist in vielen Studien medikamentösen Standardprophylaktika ebenbürtig. Den Vorteil der fehlenden Medikamentennebenwirkungen erkauft man sich jedoch mit einem nicht unerheblichen Zeitaufwand. In den Studien waren für den Sport meist dreimal in der Woche 30 bis 40 Minuten angesetzt worden.

Bei der Auswahl des Sports sollte die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass ein ungewohnt intensiver Sport auch gegenteilige Effekte haben und Migräneattacken triggern kann. In Studien wurden in der Regel untrainierte Patienten untersucht, da man bei ihnen am ehesten positive Effekte nachzuweisen hoffte. Das Training wurde dann der einfachen Standardisierung halber am häufigsten als Fahrradergometertraining durchgeführt. Möglicherweise ist Fahrradfahren aber tatsächlich auch im Alltag der ideale Kompromiß aus ausreichendem, aber nicht zu intensivem, überall verfügbarem Ausdauersport bei Neusportlern.

Dr. med. Axel Heinze, Dr. med. Katja Heinze-Kuhn & Prof. Dr. Hartmut Göbel

Literatur:

  1. http://www.hochdruckliga.de/bluthochdruck-behandlung-leitlinien.html
  2. http://www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/leitlinien/evidenzbasierte-leitlinien.html
  3. http://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/neuro-psychiatrische_krankheiten/depressionen/article/850155/depressionen-sport-hilft-antidepressivum.html
  4. http://www.dgn.org/leitlinien/11-leitlinien-der-dgn/2298-ll-55-2012-therapie-der-migraene
  5. http://www.dosb.de/de/trimmy/die-geschichte/printer.html
  6. https://de.wikipedia.org/wiki/No_Sports
  7. Moseley JB, O’Malley K, Petersen NJ, Menke TJ, Brody BA, Kuykendall DH,Hollingsworth JC, Ashton CM, Wray NP. A controlled trial of arthroscopic surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med. 2002 Jul 11;347(2):81-8.
  8. Santiago MD, Carvalho Dde S, Gabbai AA, Pinto MM, Moutran AR, Villa TR. Amitriptyline and aerobic exercise or amitriptyline alone in the treatment of chronic migraine: a randomized comparative study. Arq Neuropsiquiatr. 2014 Nov;72(11):851-5.
  9. Varkey E, Cider A, Carlsson J, Linde M. Exercise as migraine prophylaxis: a randomized study using relaxation and topiramate as controls. Cephalalgia. 2011 Oct;31(14):1428-38.
  10. Koppen H, van Veldhoven PL. Migraineurs with exercise-triggered attacks have a distinct migraine. J Headache Pain. 2013 Dec 21;14:99.