vernetzt den Schmerz behandeln
Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an chronischem Kopfschmerz. Ihre Behandlung stellt hohe Anforderungen selbst an spezialisierte Schmerztherapeuten. 2007 haben die Schmerzklinik Kiel und die Techniker Krankenkasse den ersten bundesweiten Vertrag über eine integrierte Versorgung der betroffenen Patienten in Praxen in ganz Deutschland geschlossen.

Im Interview fasst Prof. Göbel die bisherigen Erfahrungen zusammen:

Herr Prof. Göbel, was ist das Besondere an dem neuen Behandlungskonzept?

Prof. Göbel: Das neue koordinierte Versorgungskonzept bedeutet für die Behandlung der Volkskrankheit Kopfschmerzen und die betroffenen Patientinnen und Patienten einen Meilenstein. Es wurde von den Partnern Schmerzklinik Kiel und Techniker Krankenkasse gemeinsam entwickelt. Das Konzept ermöglicht erstmals eine bundesweite sektorenübergreifende Vernetzung der ambulanten und stationären Therapie. Die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur zeitgemäßen Behandlung von Migräne und Kopfschmerzen kommen den Betroffenen unmittelbar zugute. Die umfassende Versorgung Hand in Hand, ein Mehr an Wissen, ein innovativer Informationsaustausch zwischen allen Beteiligten und die gemeinsame Arbeit mittels präzise definierter Behandlungspfade sind die Basis für zeitgemäße und effiziente Behandlungsergebnisse. Ein nationaler Verbund von Hausärzten sowie ambulant und stationär tätigen Schmerztherapeuten in Praxen und Kliniken wirkt Hand in Hand zusammen, um Schmerzen fach- und sektorenübergreifend mit modernen Methoden optimal zu lindern. Die beteiligten Berufsgruppen behandeln dabei nach aktuellen Leitlinien und auf modernstem wissenschaftlichen Stand. Ambulante, rehabilitative und stationäre Therapien sind eng aufeinander abgestimmt und im zeitlichen Ablauf miteinander verzahnt. Die Qualität der Behandlung ist durch kontinuierliche wissenschaftliche Begleitforschung belegt, die nachhaltige Kosteneffizienz in allen Sektoren des Gesundheitssystems ist durch Analyse der direkten und indirekten Kosten bestätigt. Das Konzept hat bundesweit die Versorgung der Volkskrankheit Kopfschmerz völlig neu strukturiert. Es wurde ein innovatives nationales Behandlungsnetz  geschaffen und realisiert, das auch international  vorbildhaft für eine  effektive  und zeitgemäße koordinierte Therapie ist, die Schmerzen effektiv lindert und Kosten nachhaltig senkt.

Welche Maßnahmen umfasst die Behandlung?

Prof. Göbel: Grundsätzlich wenden wir uns allen am Kopfschmerz beteiligten Komponenten gleichzeitig zu. Um ein Bild zu gebrauchen: Wenn ein Fahrradschlauch fünf Löcher hat, dann flicken wir simultan alle fünf Löcher, denn sonst hält er keine Luft und wir sind nicht weiter. Konkret heißt das, zunächst eine exakte Kopfschmerzdiagnose zu stellen, denn es werden heute über 250 Hauptformen unterschieden. Diese können durch Spezialisierung gezielt behandelt werden. Wichtige Therapiebaustein am Beispiel der Migräne sind, die Kopfschmerzauslöser zu identifizieren, Stress, unregelmäßige Lebensführung, übermäßigen Energieverbrauch, Stimmungsprobleme, Schlafstörungen abzubauen, die Ernährung – etwa in Hinblick auf ein ausreichendes Energieangebot an die Nervenzellen – zu optimieren und Selbstwertgefühl aufbauen.

Auf der körperlichen Seite werden unter anderem Hormonstörungen, muskuläre Hyperaktivität, außerhalb des Kopfes gelegene Chronifizierungsfaktoren und begleitende Erkrankungen angegangen. Außerdem wird den Betroffenen ein verträgliches Medikamentenregime an die Hand gegeben, mit dem sie im Falle einer Attacke den Schmerz zuverlässig in den Griff bekommen können. Die Therapie erfolgt dabei jeweils nach aktuellstem wissenschaftlich evaluiertem Stand.

Warum benötigen Ihre Patienten die Hilfe einer Spezialklinik und eines bundesweiten Netzwerks von Schmerztherapeuten?

Prof. Göbel: Kopfschmerz betrifft Menschen sehr unterschiedlich stark. An einem Pol steht Kopfschmerz als leichte Befindlichkeitsstörung, am anderen eine lebensbestimmende Erkrankung: Schwerste, anhaltende Schmerzattacken führen zu Arbeitsunfähigkeit, Kindern fehlen halbe Jahre in der Schule und können ihre Ausbildung nicht abschließen, Partnerschaften brechen auseinander. Es kann zu langer Arbeitsunfähigkeit, sozialem Rückzug, Depressionen, Bluthochdruck, Lebererkrankungen und vielen anderen schwerwiegenden körperlichen Erkrankungen kommen.

Die Motivation ist, für diese Patienten eine spezialisierte wohnortnahe Behandlung zu organisieren. Wir haben deshalb ein bundesweites Netz von rund 400 Spezialisten mit besonderer Kopfschmerz-Qualifikation aufgebaut, die über die TK erfragt, oder im Internet über eine Deutschlandkarte gefunden werden können. Diese Schmerztherapeuten bieten den Patienten vor Ort eine hoch qualifizierte Behandlung.

Eine Gruppe von Schwerstbetroffenen benötigt jedoch noch weiter reichende Therapien. Diese werden von der Schmerzklinik Kiel zentral für das gesamte Bundesgebiet angeboten. Die Patienten können, falls erforderlich, aus ihrem Alltag herausgenommen und bei uns individuell maßgeschneidert behandelt werden. Anschließend setzen die lokalen Netzwerkpartner die Therapie für ein Jahr fort – das ist schmerztherapeutisch das Optimum.

Inzwischen wurden über 1000 Patienten nach dem neuen Versorgungsmodell behandelt. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Prof. Göbel: Das Projekt ist sehr erfolgreich und wird bundesweit sehr umfangreich genutzt. Die Lebensqualität der Patienten verbessert sich nachhaltig: Psychisch, körperlich und sozial. Die Betroffenen kehren ins Berufsleben zurück, die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit nehmen stark ab. Und diese Entwicklung setzt sich auch nach der Therapie fort. Die Patienten können ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen.