Die Migräne belegt weltweit hinter Zahnkaries und Kopfschmerz vom Spannungstyp den 3. Platz der häufigsten Erkrankungen des Menschen [28]. Die Einjahres-Prävalenz in Europa für alle Formen der Migräne beträgt 43,6% bei Frauen und 26,9% bei Männern [29]. Jeden Tag sind allein in Deutschland etwa 900.000 Menschen von Migräneattacken betroffen. 100.000 Menschen sind wegen Migräneanfällen pro Tag arbeitsunfähig und bettlägerig. Drei Millionen Deutsche nehmen im Mittel täglich eine Kopfschmerztablette über Selbstmedikation ein. Rund 59.000 Triptan-Einzeldosen werden in Deutschland jeden Tag zur Behandlung von Migräneattacken verwendet [19].
Der Migräneschmerz basiert nach heutigen Erkenntnissen auf einer neurogenen Entzündungsreaktion an den Arterien der Hirnhäute. Entzündungsstoffe werden dort im Initialstadium der Migräneattacke freigesetzt [5, 10, 16, 25]. Diese führen zu einer verstärkten Schmerzempfindlichkeit der Hirnhäute mit Schwellung und Erweiterung der Gefäßwände. Jeder Pulsschlag führt zu einem pochenden, hämmernden Migräneschmerz, jede Bewegung des Kopfes tut weh und verstärkt den Schmerz. Migränepatienten versuchen daher im Anfall möglichst Ruhe und Reizabschirmung einzuhalten sowie körperliche Tätigkeit und Erschütterungen zu vermeiden.
In den letzten Jahren ist es gelungen, spezifische Antikörper gegen Botenstoffe zu entwickeln, welche die Entzündung während des Migräneanfalles bedingen. Im Mittelpunkt steht dabei das Calcitonin Gene-Related Peptide, kurz CGRP [1, 13, 14, 20, 23, 24]. Es ist ein Neuropeptid, das aus 37 Aminosäuren besteht und durch das identische Gen wie das Hormon Calcitonin kodiert wird. CGRP zählt zu den stärksten gefäßerweiternden Substanzen und spielt eine wichtige Rolle in der Entstehung der Migräne. Gibt man sogenannte monoklonale Antikörper, kann die Wirkung dieser Entzündungsstoffe für einige Wochen gestoppt und die Wahrscheinlichkeit für Migräneattacken reduziert werden. Es wurden vier Antikörper entwickelt und in zahlreichen Studien getestet: Erenumab (AMG 334), Galcanezumab (LY2951742), Fremanezumab (TEV-48125) und Eptinezumab (ALD403) [4, 8, 12, 14, 15, 21, 22, 32, 33]. Erenumab wurde als erster Vertreter dieser neuen Wirkstoffklasse im Juli 2018 in Deutschland zugelassen und ist seit November 2018 in den Apotheken erhältlich. Die jetzt verfügbaren Antikörper haben in sehr groß angelegten internationalen Studien alle ihre Wirksamkeit belegt. Es gibt Antikörper, die gegen den Liganden CGRP wirken (Galcanezumab, Fremanezumab, Eptinezumab) oder aber den Rezeptor für CGRP blockieren (Erenumab) [31].
Für Erenumab liegen Studiendaten für die episodische Migräne, d.h. bis zu 14 Migränetage pro Monat, und die chronische Migräne, d.h. mehr als 15 Kopfschmerztage pro Monat, vor [2, 3, 6, 7, 9, 11, 17, 26, 27, 30]. Untersucht wurde auch, ob Patienten, die bisher auf die bereits zugelassenen Medikamente zur Vorbeugung nicht angesprochen haben, trotzdem eine Wirkung erzielen können [26]. Vergleichende Studien mit den bisherigen vorbeugenden Medikamenten liegen noch nicht vor. Die Reduktion der Migränetage pro Monat im Vergleich zu Placebo liegt mit etwa ein bis drei Migränetagen in ähnlichen Größenordnungen wie durch die bisherigen für diese Indikation zugelassenen Prophylaktika. Bei der Verordnung spielt daher das Wirtschaftlichkeitsgebot eine besondere Bedeutung: Der Preis für die monatliche Dosis von 70 mg Erenumab (Aimovig®) beträgt 688,36 Euro. Dies entspricht Jahrestherapiekosten von 8.260,32 Euro, die möglicherweise über Jahre oder Jahrzehnte anfallen können. Bei einer Behandlung mit 140 mg betragen die Jahrestherapiekosten 16.520,64 Euro. Es ist derzeit noch nicht abschließend festgelegt, für welche Migräneformen und für welche Patienten die Erstattung durch gesetzliche Krankenkassen erfolgen wird. Um das Wirtschaftlichkeitsgebot zu erfüllen, wird aufgrund der hohen Kosten die neue Immuntherapie erst dann zu erwägen sein, wenn die bisherigen verfügbaren speziellen Verhaltensmaßnahmen und vorbeugenden Migränemittel nicht effektiv sind, nicht vertragen werden oder wegen Gegenanzeigen nicht eingenommen werden dürfen.
Vor diesem Hintergrund strebt der Hersteller eine zeitlich begrenzte Erstattung für schwer betroffene Migränepatienten an, bei denen vier (für die episodische Migräne, d.h. weniger als 15 Kopfschmerztage pro Monat) bis fünf (für die chronische Migräne, d.h. 15 und mehr Kopfschmerztage pro Monat) zugelassene Vortherapien erfolglos waren. Welche Vortherapien dies genau sein sollen, ist aktuell noch nicht verbindlich definiert. Nach den Leitlinien sind für die Behandlung der episodischen Migräne Amitriptylin, Betablocker (Metoprolol, Propranolol, Bisoprolol), Flunarizin, Topiramat und Valproat relevant. Für die vorbeugende Behandlung der chronischen Migräne ist als derzeit einziges dafür spezifisch zugelassenes Arzneimittel Onabotulinumtoxin zusätzlich zu berücksichtigen. Für Patienten, bei denen diese Vortherapien nicht sachgerecht abgearbeitet wurden, soll die Verordnungsfähigkeit eingeschränkt sein.
Direkte Evidenz eines Zusatznutzens für die Behandlung der so angestrebten Patientengruppe lässt sich jedoch nicht unmittelbar aus den Daten erkennen. Zwar wurde in der LIBERTY-Studie [26] die Wirksamkeit und Sicherheit von 140 mg Erenumab bei Patienten mit episodischer Migräne mit vier bis 14 Migränetagen pro Monat untersucht, bei denen zwei bis vier vorherige vorbeugende Therapien aufgrund mangelnder Wirksamkeit oder nicht tolerierbarer Nebenwirkungen versagt hatten. Dabei zeigten lediglich 30,3% unter Erenumab 140 mg gegenüber 13,7% unter Placebo eine Reduktion der monatlichen Kopfschmerztage um mindestens 50%. Klinisch bedeutete dies jedoch lediglich eine absolute Reduktion von 1,76 Kopfschmerztagen pro Monat unter 140 mg Erenumab und 0,15 Kopfschmerztagen pro Monat unter Placebo. Die Tage mit spezifischer Akutmedikation für Migräne pro Monat reduzierten sich um -1,3 Tage unter Erenumab 140 mg gegenüber +0,5 Tage unter Placebo.
Unter den Studienvoraussetzungen ist somit bei rund 70% der behandelten Patienten keine signifikante Wirkung zu erwarten. Es ist dabei zu beachten, dass diese bisher einzige Studie, die eine Wirksamkeit bei anderweitigem Therapieversagen thematisiert, nicht mit der zur Verfügung gestellten Standarddosis von 70 mg, sondern mit 140 mg Erenumab bei episodischer Migräne durchgeführt wurde. Die vorherigen erfolglosen Therapien umfassten zudem nicht explizit die jetzt im Rahmen der angestrebten Erstattungseinschränkung in Deutschland fokussierten vier Wirkstoffe. Sie schlossen Amitriptylin, Candesartan, Flunarizin, Lisinopril, Metoprolol, Propranolol, Topiramat, Valproat, Venlafaxin u.a. ein. 39% der Studienteilnehmer hatten bislang sogar erst zwei Prophylaktika erfolglos eingesetzt. Der Zusatznutzen von 70 mg Erenumab im Vergleich zu den bisherigen Therapieoptionen ist daher aktuell weder für die episodische noch für die chronische Migräne durch Studiendaten belegt. Für die schwer betroffene Patientengruppe mit chronischer Migräne mit komplettem Versagen der Migräneprophylaktika der 1. Wahl ist die Wirkung von 70 mg als auch 140 mg Erenumab völlig offen.
Erenumab ist zugelassen zur Migräne-Prophylaxe bei Erwachsenen mit mindestens vier Migränetagen pro Monat. Die Behandlung sollte von Ärzten eingeleitet werden, die mit der Diagnose und Behandlung von Migräne Erfahrung haben. Die empfohlene Dosis beträgt 70 mg Erenumab alle vier Wochen. Manche Patienten können von einer Dosis mit 140 mg alle vier Wochen profitieren, welche in Form von zwei subkutanen Injektionen mit jeweils 70 mg verabreicht wird. In klinischen Studien zeigte sich durch die Dosierung mit 140 mg eine zahlenmäßig höhere Ansprechrate, die statistisch jedoch nicht signifikant war [2, 11, 17, 26, 30]. Das Ansprechen auf die Therapie kann sich bereits in den ersten zwei Behandlungswochen abzeichnen. Bei Patienten, die nach drei Monaten noch kein Ansprechen zeigen, sollte die Behandlung nicht weitergeführt werden. Die Behandlung sollte kontinuierlich evaluiert werden. Zur Verlaufs- und Erfolgskontrolle eignet sich die Migräne-App (kostenlos für iOS und Android erhältlich), die eine genaue quantitative Evaluation der Vorbeugung und der Akuttherapie ermöglicht. Zudem werden umfangreiches Wissen zur Migräne und Verhaltenstechniken an Betroffene vermittelt.
Etwa 50% der Patienten mit mehr als 15 Kopfschmerztagen pro Monat seit mindestens drei Monaten haben neben der ursprünglichen primären Kopfschmerzform als weiteren ursächlichen Grund für die zunehmende Häufung der Kopfschmerztage einen Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MÜK) [18, 19]. Die meisten Betroffenen zeigen im Gegensatz zur Ausgangssituation nach einer Medikamentenpause eine Reduktion der Kopfschmerztage pro Monat und ein erneutes Ansprechen auf vorbeugende sowie Akutmedikation. Die Beratung dazu, das Wissen um den Zusammenhang und die Konsequenzen des Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes (MÜK) sind daher essentiell. Patienten mit Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MÜK) sollten vor Einleitung einer Behandlung mit Erenumab eine adäquate Medikamentenpause durchführen und zum Einhalten der 10-20-Regel angehalten werden: Schmerzmittel und spezifische Migränemittel sollten an weniger als 10 Tagen pro Monat verwendet werden, mindestens 20 Tage im Monat sollten komplett frei von deren Einnahme sein.
Die Injektionen erfolgen mit Hilfe eines Autoinjektors im Abstand von vier Wochen. Vielen Migränepatienten ist der Umgang mit diesem Autoinjektor vertraut, da ein nahezu identischer Pen auch zur subkutanen Applikation von Sumatriptan s.c. verwendet wird. Im Unterschied dazu wird der Pen nicht in der Attacke bei Bedarf eingesetzt. Die Anwendung erfolgt vielmehr in festen Zeitabständen von vier Wochen zur Vorbeugung nach definiertem Behandlungsplan. Bei dieser Immuntherapie handelt es sich um eine passive Immunisierung. Die Antikörper werden nicht selbst im menschlichen Körper gebildet, sondern im Labor als ein vollständig humaner monoklonaler lgG2-Antikörper in Ovarialzellen chinesischer Hamster (CHO) mit Hilfe rekombinanter DNA-Technologie hergestellt. Aus diesem Grund muss die Gabe regelmäßig wiederholt werden. Immuntherapie oder passive „Impfung“ bedeutet nicht, dass die Erkrankung nicht mehr auftritt. Es wird das Risiko für zukünftige Attacken gesenkt. Während des Dosierungszeitraums wird Erenumab vorwiegend über einen unspezifischen proteolytischen Weg eliminiert und hat eine Eliminationshalbwertszeit von ca. 28 Tagen.
Erenumab wird subkutan durch die Patienten selbst angewendet. Die Injektion kann am Bauch, am Oberschenkel oder an der Außenseite des Oberarms verabreicht werden. Bei jeder Folge-Injektion sollte eine andere Injektionsstelle verwendet werden. Injektionen dürfen nicht in empfindliche, verletzte, gerötete oder verhärtete Hautpartien gegeben werden. Der Autoinjektor ist für den einmaligen Gebrauch einzusetzen. Aus Vorsichtsgründen soll eine Anwendung von Erenumab während der Schwangerschaft vermieden werden. Auf eine ausreichende Kontrazeption ist daher zu achten.
Als Nebenwirkungen werden bei 70 mg bzw. 140 mg Erenumab Reaktionen an der Injektionsstelle, Obstipation, Muskelspasmen und Pruritus berichtet. Die meisten dieser Nebenwirkungen sind von leichter oder mittlerer Schwere. Langzeitwirkung und Langzeitnebenwirkungen sind aktuell jedoch noch nicht bekannt.
Das Arzneimittel ist im Kühlschrank bei 2-8 Grad Celsius zu lagern und nicht einzufrieren. Der Autoinjektor soll im Umkarton lichtgeschützt aufbewahrt werden. Wird das Arzneimittel bei Raumtemperatur bis zu 25 Grad Celsius gelagert, muss es innerhalb von 14 Tagen angewendet oder entsorgt werden. Vor der Anwendung sollte die Lösung visuell überprüft werden. Enthält sie Trübungen, Flocken, Partikel oder eine Gelbfärbung, darf sie nicht verwendet werden. Zur Vermeidung von Beschwerden an der Injektionsstelle sollte der Autoinjektor vor der Injektion aus der Kühlung entnommen und mindestens 30 Minuten bei Raumtemperatur unter Vermeidung von Schütteln und direkter Sonneneinstrahlung oder anderer Wärmequellen aufbewahrt werden.
Die neue Immuntherapie ist im Gegensatz zu allen anderen bisher verfügbaren vorbeugenden Medikamenten erstmals spezifisch für die Migränevorbeugung entwickelt worden. Eine langsame Aufdosierung wegen eventueller Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen ist nicht erforderlich. Der Wirkeintritt ist bei Ansprechen schnell initial innerhalb von wenigen Tagen zu erwarten. Nebenwirkungen der bisherigen migränevorbeugenden Mittel wie z.B. Gewichtszunahme, Stimmungsveränderungen, Müdigkeit, Antriebsreduktion oder Benommenheit sind nicht zu erwarten. Die bisher verfügbaren Daten zeigen jedoch, dass man nicht davon ausgehen darf, dass mit dem neuen Wirkprinzip die Migräne aufhört und man leben kann, wie man will. Rund 70% der Patienten mit episodischer Migräne mit bisher erfolglosen anderen Therapieversuchen werden wahrscheinlich auch auf den neuen Wirkmechanismus nicht ansprechen. Wer zu den 30% Respondern gehört, kann bislang nicht vorhergesagt werden. Wie groß die Wirksamkeit aber bei den Patienten mit einer chronischen Migräne ist, die bislang auf keine Standardprophylaxe einschließlich Onabotulinumtoxin angesprochen haben und am meisten eine Besserung ihres Zustandes erhoffen, ist zurzeit unbekannt. Vom Studienprogramm waren sie ausgeschlossen.
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