„30 Jahre DGS – und noch lange nicht am Ziel“
Interview mit Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS)
Herr Dr. Müller-Schwefe, die DGS, die sich seit 30 Jahren für Schmerzpatienten einsetzt, fordert, dass endlich eine flächendeckend ausreichende Schmerztherapie-Versorgung in Deutschland sichergestellt wird. Wie kann das erreicht werden?
Müller-Schwefe: Aktuell gehen wir davon aus, dass es in Deutschland etwa 15 bis 17 Millionen Patienten gibt, die unter chronischen Schmerzen leiden und dass rund 10 Prozent davon unter schweren hochproblematischen Schmerzen leiden. Auf dieser Basis benötigen wir dringend eine Bedarfsplanung, um die Versorgung chronischer Schmerzpatienten sicherzustellen. Die kassenärztlichen Vereinigungen sind dafür zuständig, populationsbezogen den Bedarf an Fachärzten und Hausärzten zu planen.
Wir wissen genau, wie viele Chirurgen, Anästhesisten, Internisten, Allgemeinärzte und Orthopäden wir pro 100.000 Einwohner benötigen. Da es das Fachgebiet Schmerzmedizin nicht gibt und Schmerzmedizin bisher nur eine Zusatzbezeichnung ist, gibt es aber keine sichere Bedarfsplanung für Schmerzpatienten. Auch die Kontinuität in der Betreuung der Patienten ist nicht gesichert. Wenn zum Beispiel ein niedergelassener Allgemeinmediziner, der nur Schmerzmedizin anbietet, seine berufliche Tätigkeit als Vertragsarzt beendet und keinen Allgemeinarzt als Nachfolger findet, der eine Schmerzqualifikation hat, dann ist die Schmerztherapie in dieser Praxis am Ende. So kann es passieren, dass plötzlich 400 oder 800 Patienten mit chronischen Schmerzen keinen Ansprechpartner mehr haben.
Wie viele Schmerzmediziner benötigen wir denn?
Müller-Schwefe: Wenn man davon ausgeht, dass ein Schmerzmediziner pro Quartal 300 Patienten sorgfältig betreuen kann, kommt man populationsbezogen auf einen Bedarf von etwa einem Schmerzmediziner auf 15.000 Patienten. Wenn wir es nicht schaffen, die Schmerzmedizin als Fachgebiet zu etablieren, ist die Versorgung von Schmerzpatienten weiterhin ungesichert und die aktuell bereits sehr langen Wartezeiten bleiben aufgrund dieser Mangelversorgung weiter bestehen.
Wie lang sind die durchschnittlichen Wartezeiten von Schmerzpatienten, bevor sie einen Termin bei einem Schmerzmediziner bekommen?
Müller-Schwefe: Das ist regional etwas unterschiedlich. In den meisten Zentren liegen sie zwischen drei Wochen und neun Monaten, mit Tendenz zu neun Monaten, drei Wochen sind eher die Ausnahme. Die Wartezeit hängt u. a. von der Diagnose ab. Tumorpatienten und Trigeminusneuralgie-Patienten, also solche mit schwersten Schmerzerkrankungen, bekommen schneller einen Termin, die anderen müssen länger warten. Das wiederum kollidiert mit dem Recht der Patienten auf eine adäquate medizinische Versorgung. Das Grundgesetz garantiert das Recht auf körperliche Unversehrtheit. So kann unterlassene Schmerzlinderung Körperverletzung sein.
Was zeichnet für Sie einen Schmerzmediziner aus – fachlich und menschlich?
Müller-Schwefe: Ärzte, die sich auf die Diagnostik und die Therapie von Patienten mit chronischen Schmerzkrankheiten spezialisieren, benötigen eine ganze Reihe von Kompetenzen, eine abgeschlossene Facharztausbildung in einem klinischen Fachgebiet sowie theoretische Kenntnisse darüber, wie Schmerzen chronisch werden und welche Behandlungskonzepte wirksam sind. Die Ausbildung sollte der Komplexität der chronischen Schmerzerkrankung entsprechen, d. h. funktionell orthopädische, neurologische, psychologische, psychiatrische, anästhesiologische und pharmakologische Inhalte vermitteln.
Neben diesen Fachkenntnissen, die in der Weiterbildung zur speziellen Schmerztherapie definiert sind, benötigen sie ein ganz erhebliches Maß an Empathie, um sich mit den schwierigsten Patienten des Gesundheitssystems auseinanderzusetzen und sich auf sie einzulassen. Das Leben dieser Menschen besteht häufig aus einer Aneinanderreihung von Katastrophen: gestörte soziale Bindungen, Arbeitsplatzverlust, Probleme in der Partnerschaft bis hin zur Trennung. Oft haben diese Patienten kein Vertrauen mehr, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass ihnen ihre Wahrnehmung der chronischen Schmerzkrankheit nicht geglaubt wird. Um dieses Vertrauen zurückzugewinnen, ist ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und kommunikativer Kompetenz nötig. Schmerztherapeuten brauchen außerdem ein Netzwerk, um ihren Patienten fachgebietsübergreifend Hilfe anbieten zu können, entsprechend dem Modell der multimodalen Schmerzmedizin.
Woran scheitert die Einführung der Facharztbezeichnung Schmerzmedizin?
Müller-Schwefe: Der Deutsche Ärztetag tendiert im Moment eher dazu, die Anzahl der Facharztbezeichnungen zu reduzieren und Fachgebiete zusammenzulegen, als neue zu schaffen. Darüber hinaus gibt es die Sorge, dass einzelnen Fachgebieten Versorgungsbereiche weggenommen werden könnten. Diese Sorge ist unbegründet. Ich glaube, wir können Schmerzpatienten effizient behandeln, wenn wir entsprechend geschulte Ärzte haben. Es würde auch nicht mehr Geld kosten, weil die uneffektive Behandlung die teuerste Behandlung überhaupt ist. Wir, die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin und die Patientenorganisation Deutsche Schmerzliga werden hier weiter an einem Strang ziehen, um das Recht der Patienten auf adäquate Versorgung umzusetzen.
Was kann die Politik dazu beitragen?
Müller-Schwefe: Ich persönlich glaube, dass dieses Anliegen auf höchster politischer Ebene geregelt werden muss. Das Bundesministerium für Gesundheit und der Gemeinsame Bundesausschuss müssen sich dieses Themas annehmen und eine adäquate Versorgung vehement einfordern. Ansonsten werden die Behäbigkeit und die Partikularinteressen der Fachgebiete stärker sein als die Notwendigkeit, Schmerzpatienten adäquat zu versorgen. Das Gesundheitsministerium ist die Aufsichtsbehörde für die Kassenärztliche Bundesvereinigung und ich glaube, Bundesgesundheitsminister Gröhe hat die Verpflichtung, für die Patienten einzuschreiten. Wir werden die Versorgung der Patienten nur verbessern, wenn wir adäquate Anlaufstellen in Form von ärztlichen Versorgungsstrukturen zur Verfügung haben.
Neuerdings bieten Sie auch Apothekern und Physiotherapeuten Fortbildungen an. Welche Kompetenzen im Umgang mit Schmerzen benötigen diese Berufsgruppen?
Müller-Schwefe: Gerade der unglaublich große Markt von freiverkäuflichen Schmerzmitteln – pro Jahr werden etwa 150 Millionen Packungen verkauft – zeigt, dass die erste Anlaufstelle für Schmerzen häufig die Apotheke ist. Um seiner Beraterfunktion optimal nachkommen zu können, benötigt der Apotheker daher grundlegende Kenntnisse über die Mechanismen der Schmerzchronifizierung sowie sinnvolle pharmakologische und nichtpharmakologische Strategien. Deshalb schulen wir Apotheker und ihre Teams und zertifizieren sie zu Kompetenzapotheken. Die Zertifizierung ist jeweils für ein Jahr gültig.
Physiotherapeuten haben einen unglaublich intensiven Kontakt zu Patienten mit chronischen Schmerzen. Deshalb ist es auch für diese Berufsgruppe eminent wichtig zu verstehen, wie Schmerzen chronifizieren und welche, beipielsweise auch psychologischen, Aspekte eine Rolle spielen. Wir schulen Physiotherapeuten darin, Angstvermeidungsstrategien zu erkennen und vermitteln ihnen, wie sie ihren Patienten dabei helfen können, Techniken zu erlernen, mit denen sie sich selbst weiterhelfen können.
Wie schätzen Sie die Versorgungssituation in der Palliativmedizin ein? Was gibt es hier zu tun?
Müller-Schwefe: Eines der Kernstücke einer adäquaten Palliativversorgung ist eine angemessene schmerzmedizinische Versorgung. Auch hier gibt es noch enormen Verbesserungsbedarf, weil es zu sehr von Zufällen abhängt, ob Patienten in ihrer Lebensendphase angemessene Versorgungsstrukturen vorfinden. Ich bin im Vorstand eines stationären Hospizes und es hat zehn Jahre gedauert, bis wir das Geld zusammen hatten, um das Hospiz in Betrieb zu nehmen. Jedes Jahr müssen wir 10 Prozent der Kosten aus Spenden finanzieren, um den Hospizbetrieb aufrecht erhalten zu können. Hier gibt es erhebliche Defizite in Deutschland. Wir erleben z. B. oft, dass – aus Mangel an Strukturen – Patienten aus Krankenhäusern in Pflegeheime abgeschoben werden. Diese sind aber nicht darauf eingerichtet, Patienten in der Lebensendsituation mit problematischen und schmerzhaften Erkrankungen zu betreuen. Das ist eine Katastrophe, aber sie findet leider nicht öffentlich statt. Sonst gäbe es einen großen Aufschrei, weil Tod und Sterben jeden betrifft.
Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS)
Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS) ist mit mehr als 4.000 Mitgliedern die größte europäische Fachgesellschaft, die sich für ein besseres Verständnis und für bessere Diagnostik und Therapie des chronischen Schmerzes einsetzt. Sie ist bundesweit in mehr als 120 regionalen Schmerzzentren organisiert, in denen interdisziplinäre Schmerzkonferenzen veranstaltet werden. Oberstes Ziel der DGS ist die Verbesserung der Versorgung von Menschen mit chronischen Schmerzen. Dies kann nur durch die Etablierung der Algesiologie in der Medizin erreicht werden. Dazu gehört die Qualitätssicherung in der Schmerzmedizin durch die Etablierung von Therapiestandards sowie die Verbesserung der Aus-, Fort- und Weiterbildung auf den Gebieten der Schmerzdiagnostik und Schmerztherapie für Ärzte aller Fachrichtungen. Die DGS gibt den Schmerztherapieführer heraus, in dem alle Mitglieder aufgelistet sind. Gemeinsam mit der Deutschen Schmerzliga e.V. organisiert die DGS den jährlich stattfindenden Deutschen Schmerz- und Palliativtag in Frankfurt/Main.
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