Am 5. September 2012 ist Internationaler Kopfschmerztag. Aus diesem Anlass erinnern wir an die wichtigste Regel für die medikamentöse Kopfschmerzbehandlung, die „10-20-Regel“. Die zu häufige Einnahme von Schmerzmitteln bei Kopfschmerzen kann selbst Kopfschmerzen wiederum auslösen – ein Teufelskreis.
Dabei ließe er sich verhindern, erklärt Professor Dr. Hartmut Göbel, Direktor der neurologisch-verhaltensmedizinischen Schmerzklinik Kiel, im Interview mit Dr. Ulrike Maronde.
Wie lässt sich in der Praxis unterscheiden, ob ein Kopfschmerzpatient eine chronische Migräne, einen chronischen Spannungskopfschmerz oder aber einen chronischen Kopfschmerz durch Schmerzmittelübergebrauch hat?
HG Entscheidend ist, bei der Schmerzanamnese dezidiert nachzufragen: Wie laufen die Kopfschmerzen ab? An wie vielen Tagen im Monat treten sie auf? Und ganz wichtig: Was macht der Patient gegen seine Kopfschmerzen? Manche nehmen die Kopfschmerzen hin, weil sie nicht jeden Tag Schmerzmittel einnehmen wollen. Der Patient mit Kopfschmerz aufgrund von Medikamentenübergebrauch jedoch hat eine wichtige Schwelle überschritten: Er nimmt an mehr als zehn Tagen im Monat eine Akutmedikation ein – ein Triptan, ein Analgetikum oder beides. Hier ist davon auszugehen, dass die häufige Einnahme dieser Medikamente die Kopfschmerzfrequenz erhöht hat.
Bevor dieser mögliche Risikofaktor für die Chronifizierung nicht geklärt ist, kann eine Prophylaxe nicht sinnvoll beginnen. Klärung bringt eine Medikamentenpause. Sie ist der erste Therapieschritt, wenn an mehr als zehn Tagen im Monat Akutschmerzmittel eingenommen werden. Ziel dieser ist es, dass sich das schmerzverarbeitende System erholt.
Wie lange sollte eine solche Medikamentenpause dauern?
HG Das hängt davon ab, welche Medikamente eingenommen wurden. Bei Triptanen reicht meist eine Pause von fünf bis sieben Tagen aus. Gegen den in dieser Zeit auftretenden Umstellungskopfschmerz dürfen keine Akutschmerzmittel verabreicht werden. Sinnvoll ist eine Begleittherapie, zum Beispiel ein Antiemetikum gegen Übelkeit und Erbrechen oder ein Neuroleptikum gegen Unruhe und Schlaflosigkeit. Auch kann eine Prednisolongabe über mehrere Tage die Schmerzen deutlich mildern.
Und wie lange ist die Pause bei anderen Schmerzmitteln?
HG Bei anderen Medikamenten ist die Behandlung komplexer. Hier ziehen sich die Umstellungskopfschmerzen oft über drei bis vier Wochen hin. Davon betroffen sind häufig Patienten, die zwei oder drei Mittel oder Kombinationsanalgetika mit psychotropen Substanzen wie Coffein oder Codein einnehmen. Ist der Umstellungskopfschmerz überwunden und bleiben die Betroffenen danach fünf bis zehn Tage kopfschmerzfrei, ist aus dem chronischen Kopfschmerz ein episodischer geworden. Dann kann bei erneuten Kopfschmerzen wieder eine Akutmedikation angewendet werden.
Wichtig ist, dass nach der Medikamentenpause mit einer effektiven und nachhaltigen Prophylaxe begonnen wird, damit die Kopfschmerzfrequenz niedrig bleibt und somit die „Zehnerregel“ eingehalten wird, Akutschmerzmittel an maximal zehn Tagen im Monat einzunehmen.
Die stationäre Behandlung verspricht den größten Erfolg bei Kopfschmerz durch Schmerzmittelübergebrauch. Wie hoch ist hier langfristig die Erfolgsrate?
HG Unter stationären Bedingungen und mit einer Nachbetreuung vor Ort durch niedergelassene Kopfschmerzspezialisten besteht eine nachhaltige Besserung von etwa 95 Prozent noch nach einem Jahr. Ambulante Behandlungen führen bestenfalls bei 30 Prozent der Betroffenen zu einer dauerhaften Besserung.
Wie erklärt sich der Unterschied?
HG In speziellen Schmerzzentren erhalten die Patienten über die Medikamentenpause hinaus eine multimodale Therapie. Wesentlicher Punkt dabei sind Schulungen, in denen über Kopfschmerzen und darüber informiert wird, wie die Betroffenen durch Änderungen in ihrer Lebensführung Kopfschmerzen vermeiden können. Tagesrhythmus, regelmäßige Pausen, Ernährung, Sport und Entspannungsverfahren sind hier wichtige Stichpunkte der verhaltensmedizinischen Intervention. Daher ist eine stationäre Behandlung wesentlich effektiver als eine ambulante, bei der nur die Medikation geändert wird.
Ließe sich durch eine frühzeitige Prophylaxe ein Schmerzmittelübergebrauch von vorneherein verhindern?
HG Mit einer effizienten Prophylaxe, die bei Zeiten einsetzt, könnte in viel größerem Maße eine Chronifizierung und damit auch die Entwicklung zum Übergebrauchskopfschmerz vermieden werden. Ein Ansatz hierbei ist die medikamentöse Prophylaxe. Die entscheidenden Komponenten sind jedoch die Aufklärung über mögliche Ursachen der Kopfschmerzen sowie verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Wichtig ist, ungünstige Konstellationen aufzudecken wie Stressoren im Alltag, in der Familie oder im Beruf und den Betroffenen eine entsprechende Beratung im Sinne einer möglichen Lösung der Probleme anzubieten.
Halten Sie es für sinnvoll, Patienten den Zugriff auf frei verkäufliche Schmerzmittel zu erschweren, etwa indem man die Packungsgrößen reduziert?
HG Eine Beschränkung der Packungsgrößen wird das Problem nicht lösen. Triptane zum Beispiel gibt es beschränkt auf zwei Stück pro Packung ohne Rezept, verschreibungspflichtig enthält die Packung sechs Stück. Und doch haben wir derzeit den meisten Übergebrauch mit diesen Präparaten. Für viel wichtiger halte ich, die Bevölkerung über den richtigen Umgang mit Schmerzmitteln zu informieren und die „10-20-Regel“ zu kommunizieren: An zehn Tagen im Monat sind Akutmedikamente möglich, 20 Tage sollen einnahmefrei sein. Das müsste man eigentlich auf jede Packung schreiben. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass die wenigsten Patienten diese Grenze kennen.