Migräne zählt zu den schwersten behindernden Erkrankungen der Menschheit. Nach einer aktuellen Übersicht der WHO wird die Migräne auf Platz 6 der am stärksten behindernden Erkrankungen gelistet. Rechnet man die Komplikation des Kopfschmerzes bei Medikamentenübergebrauch mit hinzu, nimmt die Migräne den Platz 3 ein. Bezieht man die verschiedenen Formen der heute bekannten 367 Kopfschmerzarten zusammen, sind Migräne und Kopfschmerzen mit Abstand die am stärksten, häufigsten und schwerstbehindernden Erkrankungen des Menschen.

Die aktuellen Behandlungsmöglichkeiten der Migräne im medikamentösen Bereich umfassen vorbeugende Therapien und die Behandlung der akuten Kopfschmerzattacken. Ein erheblicher Anteil der Betroffenen findet durch vorbeugende Therapieverfahren keine ausreichende Besserung. Auch die aktuelle Attackentherapie kann mit den bisherigen Therapieoptionen keine effektive Linderung erzielen, es können Kontraindikationen bestehen oder Unverträglichkeiten.

Aktuelle Studien der vergangenen Jahre haben zahlreiche Belege dafür erbracht, dass bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und Chronifizierung der Migräne Calcitonin Gene-Related Peptide, kurz CGRP, eine bedeutsame Rolle spielt. CGRP ist ein Neuropeptid, das aus 37 Aminosäuren besteht. Es wird durch dasselbe Gen wie das Hormon Calcitonin kodiert.

CGRP wurde daher in den Fokus neuer Migränebehandlungsoptionen gebracht. Die Entwicklung von CGRP-Rezeptorantagonisten, die sogenannten Gepante, stellen eine neue Klasse von Medikamenten zur akuten Behandlung der Migräneattacken dar. Ihre Entwicklung wurde jedoch aufgrund von Lebertoxizität gestoppt.

Die aktuelle Forschung zielt intensiv auf die Entwicklung von monoklonalen Antikörpern gegen CGRP. In der komplexen Migränepathophysiologie spielen sowohl vaskuläre als auch neuronale Mechanismen eine Rolle. Als Botenstoffe sind dabei wesentlich Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT), Stickstoffmonoxid und CGRP in der Entstehung der Migräneschmerzen involviert. CGRP besteht aus 37 Aminosäuren. Es wurde vor ca. 30 Jahren entdeckt. CGRP findet sich weitreichend im peripheren und zentralen Nervensystem. Jedes größere Organ wird durch Nervenfasern innerviert, die CGRP enthalten. Insbesondere finden sich CGRP und CGRP-Rezeptoren in anatomischen Strukturen, die für die Entstehung der Migräne bedeutsam sind. Diese schließen die Hirnrinde, die Hirnhäute, den Hypothalamus, das Kleinhirn und den Hirnstamm ein. Ebenfalls findet sich CGRP in vielen Neuronen, die für das trigemino-vaskuläre schmerzverarbeitende System bedeutsam sind. Im Nervus trigeminus ist CGRP in über 50% der Neurone auffindbar. Ebenfalls ist CGRP in der Schmerzverarbeitung im Hirnstamm von Bedeutung. Es führt zu einer Sensitivierung der Reizwahrnehmung. In der Peripherie wird CGRP von Neuronen freigesetzt, die die Blutgefäße innervieren, insbesondere in den kardialen als auch den intrakraniellen Gefäßen. CGRP führt zu einer ausgeprägten und nachhaltigen Vasodilatation. Vermittelt wird diese durch die Aktivierung von Rezeptoren der glatten Muskelzellen. Diese Vorgänge sind wesentlich bei der neurogenen Entzündung relevant. Folge sind Gefäßerweiterungen, Sensitivierung, Schwellung und weitere Entzündungsmechanismen.

Erste Befunde haben gezeigt, dass bei Beginn der Migräneattacke CGRP zu einer Erweiterung der Arteria cerebri media und der Arteria meningea media führt. Weitere Studien belegten, dass CGRP sowohl die periphere als auch die zentrale Sensitivierung auslöst und unterhält. Die Sensitivierung gilt als grundlegender Schritt in der Entstehung der Migräneattacke und Chronifizierung der Erkrankung. Die neurogene Entzündung im Rahmen der Migräneattacke wird durch CGRP-Freisetzung direkt aufgrund der Gefäßerweiterung und indirekt aufgrund der Freisetzung von Substanz P mit der Folge von Plasmaextravasation moduliert. Zusätzlich wird eine Mastzellendegranulation bedingt und die Freisetzung von proinflammatorischen und inflammatorischen Substanzen ausgelöst. Die Freisetzung von Zytokininen führt zu einer Sensitivierung von sensorischen Neuronen. Als Neuromodulator aktiviert CGRP die synaptische Glutamatübertragung im Hinterhorn und im Trigeminuskern. Dies führt zu einer weiteren zentralen Steigerung der Sensitivierung und Aktivierung von nociceptiven Reflexen. Ebenfalls wird Schmerzverhalten durch Aktivierung zentraler Neurone, insbesondere in der Amygdala aktiviert. Dabei werden auch Angst und Vermeidungsverhalten beeinflusst. Die Initiierung der Migräneattacke wird mit der kortikalen Spreading Depression (CSD) in Verbindung gebracht. Dabei wird die neuronale Aktivität der Hirnrinde lokal reduziert oder ganz unterbrochen. Diese Depolarisation breitet sich räumlich graduell langsam analog zu der Ausbreitung der Migräneaura über die Hirnrinde aus. Die CSD führt zu einer Freisetzung von CGRP mit der Folge einer neurogenen Entzündung einschließlich Sensitivierung, Hyperämie, Vasodilatation, Schwellung und Funktionseinschränkung.

Studien zeigen auch, dass CGRP in der Entstehung der Überempfindlichkeit auf sensorische Reize, insbesondere von Photophobie, involviert ist. Da CGRP auch umfangreich im enteralen Nervensystem freigesetzt werden kann, wird angenommen, dass die gastrointestinalen Symptome wie Magenstase, Übelkeit und Erbrechen durch CGRP-Mechanismen moduliert werden.

Der Zusammenhang zwischen der Entstehung der Migräne und CGRP ergab sich zunächst durch die Entdeckung, dass die Stimulierung des Trigeminusganglions zu einer Freisetzung von CGRP führt. CGRP wird während einer spontanen Migräneattacke in erhöhter Konzentration in der Vena jugularis gefunden. Auch im Speichel finden sich während einer akuten Migräneattacke erhöhte CGRP-Konzentrationen. Diese können durch die Behandlung mit einem Triptan reduziert werden. Auch zwischen den Migräneattacken sind bei Patienten mit Migräne die CGRP-Spiegel erhöht.

Die intravenöse Gabe von CGRP kann bei Migränepatienten direkt Migräneattacken auslösen. Patienten, die nicht an Migräne leiden, verspüren nach CGRP-Gabe Kopfschmerzen ohne die typischen Symptome einer Migräne. Es wird daher angenommen, dass Migränepatienten eine besondere Empfindlichkeit für CGRP aufweisen. Schließlich kann die selektive Blockierung des CGRP-Rezeptors eine akute Migräneattacke wirksam kupieren.

CGRP-Rezeptorantagonisten

Aufgrund dieser Befunde wurden in den letzten Jahren verschiedene Ansätze systematisch verfolgt, die neuen Erkenntnisse über CGRP in der Migränepathophysiologie therapeutisch zu nutzen. Als komplett neue Klasse von Migränemedikamenten wurden zunächst die sog. Gepante als CGRP-Rezeptorantagonisten entwickelt. Ihr Wirkmechanismus basierte auf der kompetitiven Hemmung des körpereigenen CGRPs am CGRP-Rezeptor. Mittlerweile wurden sechs verschiedene Gepante entwickelt und in klinischen Studien getestet. Im Ergebnis zeigte sich eine klinische Wirkung, die signifikant die von Placebos überragte, jedoch vergleichbar mit denen von Triptanen war. Als Hauptvorteil der Gepante gilt, dass sie im Gegensatz zu den Triptanen nicht zu einer Vasokonstriktion führen. Die Entwicklung der CGRP-Antagonisten wurde aufgrund der Lebertoxizität im Langzeiteinsatz einerseits und andererseits aufgrund der nicht besseren Wirksamkeit im Vergleich zu Triptanen angehalten. Ihre Wirkweise belegte jedoch die wichtige Rolle von CGRP in der Migränepathophysiologie und die Möglichkeit, CGRP in der Behandlung der Migräne zu nutzen.

Monoklonale Antikörper gegen CGRP

Die biologische Wirkung von CGRP kann alternativ durch monoklonale Antikörper gegen das CGRP selbst oder gegen den CGRP-Rezeptor blockiert werden. Aktuell befinden sich vier monoklonale Antikörper zur vorbeugenden Behandlung der episodischen oder der chronischen Migräne in klinischen Entwicklungsprogrammen. Auf das Neuropeptid selbst zielen drei monoklonale Antikörper, ALD-403 (Alder Biopharmaceuticals), LY2951742 (entwickelt durch Arteaus Therapeutics und Weiterentwicklung durch Eli Lilly) und LBR-101, aktueller Name TEV-48125 (entwickelt von Labrys Biologics-Pfizer, übernommen von Teva Pharmaceuticals). Ein vierter monoklonaler Antikörper zielt auf den CGRP-Rezeptor selbst, AMG334 (Amgen, Inc.; Weiterentwicklung durch Novartis).

ALD403 wird im Abstand von 3 Monaten infundiert. Ergebnisse einer Phase-2b-Studie werden im Juli 2016 für die Vorbeugung der chronischen Migräne erwartet. In einer Phase-3-Studie wird die Vorbeugung der häufigen episodischen Migräne untersucht. Das Studienende ist im April 2017 geplant. Eine weitere Phase-3-Studie soll im Jahr 2016 starten. Zusätzlich soll eine Phase-2b-Studie die Selbstanwendung durch Patienten bei episodischer Migräne für ALD403 analysieren.

TEV-48125 wird derzeit in einer Phase-3-Studie untersucht. Die Analyse der Wirksamkeit bei chronischer Migräne soll im Oktober 2017 abgeschlossen sein.

LY2951742 wurde in einer im August 2015 abgeschlossenen Phase-2-Studie untersucht. Analysiert wurde die vorbeugende Wirkung bei episodischer Migräne durch subkutane Gabe im Abstand von vier Wochen über eine Periode von 12 Wochen. Es zeigte sich eine signifikante Wirksamkeit im Vergleich zu Placebo hinsichtlich der Reduktion der Anzahl der Migränetage. Aktuell werden weitere Phase-3-Studien durchgeführt. Eine Studie zur Wirksamkeit bei episodischer Migräne soll bis Dezember 2017 abgeschlossen sein. Eine weitere Studie zur Wirksamkeit bei chronischer Migräne soll im April 2018 komplettiert sein. Eine zusätzliche offene Langzeitstudie soll im September 2017 beendet sein.

AMG334 wird aktuell in einer Phase-2-Studie hinsichtlich der vorbeugenden Wirkung bei chronischer Migräne untersucht. Die Langzeitwirkung und Sicherheit wird in einer weiteren Phase-2-Studie analysiert und soll bis Juli 2017 abgeschlossen sein. Zwei Phase-3-Studien zur vorbeugenden Wirkung bei episodischer Migräne sollen bis Oktober 2017 bzw. Februar 2018 abgeschlossen werden.

Verträglichkeit und Sicherheit

In Hinblick auf die Erfahrungen mit der Entwicklung der CGRP-Antagonisten müssen die Ergebnisse hinsichtlich der Verträglichkeit und Sicherheit der monoklonalen Antikörper gegen CGRP in den Langzeitstudien abgewartet werden. Die Antikörper blockieren nicht selektiv die CGRP vermittelte Vasodilatation im gesamten Körper. Auswirkungen auf die Hemmung der kardiovaskulären Vasodilatation, z.B. bei Stress oder Ischämie sowie die Interaktionen bei der Behandlung der arteriellen Hypertonie sind offen. Denkbar sind Interaktionen auf die kardiale und zerebrale Durchblutung. Die bisherigen Studien zeigten jedoch keine Effekte auf das EKG oder auf sonstige hämodynamische Parameter. Offen ist bisher auch die mögliche Induktion von immunlogischen Reaktionen des Patienten auf die Gabe der monoklonalen Antikörper.

Wirksamkeit

Zweifelsfrei sind die bisherigen vorbeugenden Behandlungsoptionen der Migräne für viele Patienten unbefriedigend. Auch die monoklonalen Antikörper sind bei einem Teil der Patienten, die in den bisherigen Studienprogrammen untersucht wurden, nicht wirksam. Beispielsweise erreichten 47 % mit einer niedrigen Dosierung und 45 % mit einer hohen Dosierung von TEV-41825 keine Reduktion der Migränehäufigkeit um 50 % hinsichtlich der Kopfschmerztage. Es gilt weiterhin: Migräne ist eine komplexe Erkrankung, die durch ganz unterschiedliche pathophysiologische Wege und verschiedenste Moleküle vermittelt wird. Die Bedeutung von CGRP variiert dabei von Patient zu Patient. Allerdings scheint es eine Untergruppe von Patienten zu geben, die sehr effektiv auf die Behandlung mit monoklonalen Antikörpern gegen CGRP ansprechen. Mehr als 15 % der behandelten Patienten berichteten ein komplettes Sistieren der Migräneattacken. Für einige Patienten wird die Behandlung daher sehr effektive Möglichkeiten beinhalten, andere werden davon jedoch nicht ausreichend profitieren. Abgewartet werden muss zudem die vergleichende Wirksamkeit mit den bisherigen vorbeugenden Medikamenten. Deutlich wird jedoch bereits jetzt: Die Vorbeugung der Migräne muss sich auf verschiedene Strategien erstrecken. Eine differenzierte individuelle Therapie ist gerade bei schweren und chronischen Verläufen in jedem Einzelfall erforderlich. Eine Behandlung, die die Migräne durch eine Spritze abstellt und man dann leben kann wie man möchte, ist auch mit monoklonalen Antikörpern nicht zu erwarten.