Schmerzen sind die häufigste Ursache für Gesundheitsprobleme des Menschen. Gleichwohl galt die Schmerztherapie noch bis vor wenigen Jahren als Stiefkind der Medizin. Welche Umbrüche und geradezu atemberaubende innovative Entwicklungen unsere Generation derzeit erlebt, kann exemplarisch an den weitverbreiteten Volkskrankheiten Migräne und Kopfschmerzen verdeutlicht werden. So finden sich in der Geschichte der Kopfschmerztherapie Zeiten, in denen die Kühlung des Uterus mit Honig, vaginale Suppositorien mit Cannabisextrakten, die Schädeltrepanation, auf den Kopf gebundene Alligatoren, das Abschneiden von Zöpfen, die wiederholte Anwendung von Darmeinläufen, die Gabe von Nitroglycerin oder Marihuana und verschiedene Diäten als Stand der Kunst galten. Diese „Standards“ hielten über Jahrtausende der Menschheitsgeschichte an. Bis in die jüngste Zeit erhielt man schmerztherapeutische Behandlungen je nach individuellem Erfahrungshorizont des Therapeuten. Die ersten koordinierten Therapieempfehlungen einer Fachgesellschaft zur Behandlung von Migräne und Kopfschmerzen auf wissenschaftlicher Grundlage wurden von der Deutschen Migränegesellschaft 1986 publiziert. Im Jahr 1988 wurde erstmals eine international gültige Kopfschmerzklassifikation veröffentlicht. Mit diesen beiden Ereignissen wurden die Ausgangspunkte für eine koordinierte Diagnostik und Therapie von Migräne und Kopfschmerzen gesetzt. Ähnliche Entwicklungen gab es in den letzten Jahren auch für Rückenschmerzen, Tumorschmerzen und neuropathische Schmerzen. Wissenschaftliche Erkenntnisse und neu entwickelte Therapieverfahren sind jedoch vergebens, wenn es nicht gelingt, diese den Leidenden möglichst unmittelbar zur Verfügung zu stellen und sie praktisch umzusetzen.

Vernetzung, Strukturierung und Organisation

Die Zeitschrift Der Schmerz hat daher innovativen Versorgungsformen in der Schmerztherapie im Aprilheft 2013 einen Schwerpunkt gewidmet. Autoren aus dem Bereich der Versorgungsforschung, der gesetzlichen Krankenkassen und der pharmazeutischen Industrie sowie Netzwerkakteure aus dem Bereich innovativer Versorgungsformen von Tumorschmerz, Kopfschmerz, Rückenschmerz und neuropathischem Schmerz zeigen aus ihrer jeweiligen Perspektive an konkreten Beispielen zukunftsweisende Ansätze in der Schmerztherapie auf. Es wird deutlich, dass Hindernisse einer adäquaten Versorgung der Volkskrankheit Schmerz nicht aus einem Mangel an wissenschaftlichen Erkenntnissen resultieren. Die durch die aktuelle Versorgungsforschung erkannten Defizite basieren vielmehr ganz überwiegend auf organisatorischen Mängeln in der Versorgungslandschaft. Die mangelnde Ausbildung und Weiterbildung von Ärzten und Therapeuten in der Schmerztherapie ist das bedeutsamste Hindernis einer effizienten Schmerztherapie. Ressourcendefizite, fehlende Aufmerksamkeit für die besonderen Belange der speziellen Krankheitsbilder, eine inadäquate Erstattung durch Krankenkassen, Organisationsschwierigkeiten, eine mangelnde Bereitstellung von Ressourcen, falsch gesetzte Prioritäten, die fehlende Koordination und Integration, Missmanagement, fehlendes politisches Bewusstsein, Ärztemangel sowie allgemeine Organisationsfehler sind die größten Stolpersteine, die einer effizienten und modernen Schmerztherapie in den Weg gelegt sind. Zeitgemäße Schmerztherapie erfordert ein zentrales Bewusstsein unter Gesundheitspolitikern, Krankenkassen, Experten, Fachgesellschaften und Betroffenen, um die fehlende Priorität sowie die generellen Organisations- und Koordinationsfehler gemeinsam anzugehen.

Sektoren öffnen, Verschiebebahnhöfe auflösen

Ein zentraler Grund für die Behinderung einer effektiven Schmerztherapie ist die sektorale Gliederung der traditionellen Behandlungslandschaft. Das traditionelle Gesundheitswesen in Deutschland hat sich nicht an den wissenschaftlichen Behandlungserfordernissen orientiert, sondern ist politisch über Leistungserbringer und die Gesundheitsverwaltung ausgehandelt worden. In diesem Prozess sind elf Sektoren des Gesundheitswesens entstanden, die in der Regel rechtlich und budgetär sektoral getrennt sind. Die Verantwortlichen eines bestimmten Sektors beschränken ihre Sichtweise auf den jeweiligen Bereich. Die Nachhaltigkeit und Effizienz von Behandlungen wird aus den Augen verloren. Zusätzlich entstehen wirtschaftliche Verschiebebahnhöfe, die Entgeltsysteme wechseln mehrfach im Behandlungsablauf und die Anreizsysteme laufen der Behandlungsqualität zuwider. Die Organisation, Koordination, Integration sowie Finanzierung der Leistungserbringung standen bis vor wenigen Jahren nicht im Fokus. Aber gerade sie sind Kernbestandteile einer innovativen Gestaltung der schmerztherapeutischen Versorgungslandschaft.

Wettbewerb um bessere Ideen

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe wird mit einer Analyse der Versorgungslage von Schmerzpatienten in Deutschland durch M. Dietl u. D. Korczak eingeleitet. Die strukturellen Defizite in der Schmerztherapie werden deutlich vor Augen geführt. Nach dieser Analyse fehlen rund 2500 Einrichtungen in der kurativen Schmerzmedizin, auch in der Palliativmedizin besteht eine deutliche Unterversorgung. In den traditionellen Strukturen ist der Zugang der Patienten zur multidisziplinären fach- und sektorenübergreifenden Behandlung erschwert, neue vernetzte Konzeptionen sind für eine zeitgemäße Schmerztherapie dringlich. Die organisatorischen Voraussetzungen zur Aufhebung der sektoralen Trennung von ambulanten, stationären und sonstigen Leistungserbringungen hat der Gesetzgeber mit der Einführung von § 140a ff. SGB V geschaffen. Sektorale, abgeschottete traditionelle Strukturen werden als Hauptursache von Qualitäts- und Effizienzmängeln in der Schmerztherapie angesehen. Es liegt daher an den Akteuren im Gesundheitswesen, den vertraglichen Gestaltungsspielraum aktiv und engagiert zu nutzen.

Das Ringen um die bessere Idee, um die effizientere Konzeption und die sinnvollere Umsetzung ist zudem zu einem nicht mehr wegzudenkenden Wettbewerbsparameter für Krankenkassen geworden, wie J. Brunkhorst et al. aus Sicht der gesetzlichen Krankenkasse ausführen. Durch die kassenübergreifende Festsetzung der Beitragssätze haben Krankenkassen keine direkte Möglichkeit, ihre Einnahmen zu beeinflussen. Innovative Angebote, die in der Regelversorgung nicht verfügbar sind, stellen also einen Wettbewerbsvorteil durch ein Mehr an Qualität, Auswahl und Service dar. Die Versichertengemeinschaft der Krankenkasse kann zudem aufgrund besserer Wirtschaftlichkeit innovativer Modelle entlastet werden und es werden für sie Leistungen über die Regelversorgung hinaus ermöglicht.

S. Eble u. T. Rampoldt weisen in ihrem Beitrag darauf hin, dass innovative sektorenübergreifende Behandlungsnetze jedoch einen hohen Aufwand an Kreativität, Gestaltung und Organisation erfordern. Wirtschaftlichen Verhaltensweisen und erfolgsorientierten Vergütungsmodellen innovativer Verträge wird im traditionellen Denken immer noch mit Skepsis begegnet, da sie die gewohnten Sektoren und Entgeltsysteme sowie Machtverhältnisse berühren. Innovative Versorgungsformen sind gleichwohl als Bedingung für eine zeitgemäße und zukunftsorientierte Gestaltung der Versorgungslandschaft nicht aufzuhalten. Die Alternative zur Organisation der Schmerztherapie durch politische Vorgaben von oben herab ist die Freiheit aller Akteure zur aktiven und kreativen Mitgestaltung des zukünftigen Gesundheitssystems. Gerade die Leistungserbringer können und müssen dabei zu Vertragspartnern auf Augenhöhe werden, die die Koordination, Organisation, Struktur, Qualität, Effizienz und Wirtschaftlichkeit ihrer Leistungen belegen können. Die unabdingbare Notwendigkeit für Vernetzung, Koordination und Integration von Leistungen ist damit für die zukünftige Gestaltung des Gesundheitswesens evident. Eine wirtschaftliche Arzneimitteltherapie ist dabei integraler Bestandteil. Daher ist es folgerichtig, dass Arzneimittelhersteller und Hersteller von Medizinprodukten ebenfalls Vertragspartner in Verträgen nach § 140a ff. SGB V werden können. Behandlungsnetze tragen zu einer Erhöhung der Effizienz durch Spezialisierung, zu einer Verbesserung der interdisziplinären Kooperation und sektoralen Interaktion sowie zu einer höheren Patientenzufriedenheit als professioneller Wettbewerbsvorteil bei.

Wie solche innovativen vernetzten Versorgungsformen im Alltag funktionieren, verdeutlicht dieses Schwerpunktheft durch drei Praxisbeispiele. Die Arbeit von J. Osterbrink et al. analysiert das Schmerzmanagement bei Menschen mit Tumorerkrankungen aus Sicht einzelner Netzwerkakteure. Das Behandlungsnetz umspannt die ambulant-pflegerische, die hausärztliche und die spezialisierte ambulante palliative Versorgung in der Stadt Münster. Der enge Kommunikationsaustausch zwischen den Akteuren zeigt sich dabei als wesentliche Versorgungsleistung für die effiziente Abstimmung und Gewährleistung zeitnaher Reaktionen. Die Ergebnisse unterstreichen, dass Vernetzung, Organisation und Koordination wesentliche Voraussetzungen der Sicherung und Gewährleistung des hochkomplexen Behandlungsbedarfs von Menschen mit einer Tumorerkrankung sind.

Die Arbeit von H. Göbel et al. beschreibt Hintergründe, Konzeption und Umsetzung des bundesweiten Kopfschmerzbehandlungsnetzes. In diesem über die gesamte Bundesrepublik gespannten Netz wirkt ein innovativer nationaler Verbund von über 450 ambulant und stationär tätigen Schmerztherapeuten koordiniert sektoren- und fachübergreifend zusammen. Das für die Kopfschmerzbehandlung bahnbrechende Behandlungsnetz zeigt, dass durch engagierte Netzwerkpartner eine völlig neue Versorgungslandschaft für Deutschland aufgebaut und die nachhaltige hohe klinische und wirtschaftliche Effizienz der spezialisierten Schmerztherapie sehr erfolgreich belegt werden kann.

Eine ebenfalls sehr innovative sektorenübergreifende schmerzmedizinische Umsetzung im Raum München beschreiben A. Schneider et al. in ihrem Beitrag. In einem wegweisenden Konzept versorgen multidisziplinäre Behandlungsteams in vier verschiedenen Krankenhäusern im Großraum München und Niederbayern Schmerzpatienten multimodal ohne Therapiebrüche. Dabei stehen Therapieprogramme für Patienten mit Rückenschmerzen, Schmerzen im Alter, Tumorschmerzen sowie neuropathischen Schmerzen im Fokus.

Aufbruchstimmung und Kreativität

Die Übersichten des Schwerpunkts verdeutlichen, dass die beteiligten Netzakteure mit großem Engagement, Aufbruchstimmung und Kreativität innovative Versorgungsformen leben und prozesshaft weiterentwickeln. Vernetzung, Interaktion sowie fach- und sektorenübergreifende Zusammenarbeit als essenzielle Bestandteile einer zukunftsweisenden Gesundheitslandschaft sind in der Schmerztherapie von zentraler Bedeutung. In den vergangenen Jahren wurden wesentliche Fortschritte durch diese und andere innovative schmerztherapeutische Projekte in Deutschland ermöglicht. Die tiefgreifenden Veränderungen im Gesundheitswesen sind unaufhaltsam. Die neuen gesetzlichen Möglichkeiten eröffnen kreativen Behandlungsnetzen die kooperative Mitgestaltung der Versorgungslandschaft. Daraus ergeben sich gerade für die moderne Schmerztherapie vielfältige Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten, die darauf warten, genutzt zu werden.

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