Kiel/London 12.12.2013. Chronische Migräne war für den Komponisten Richard Wagner „die Hauptplage“ seines Lebens. Forscher der Schmerzklinik Kiel konnten nun erstmals belegen: In seinen berühmtesten Werken spiegelt sich das Erleben der Qualen sehr deutlich wieder. Die Studie wird am 12.12.2013 im British Medical Journal (BMJ) veröffentlicht.

„Die Erfahrung von Leid und Schmerz wird in der Musikgeschichte beispiellos treffend an vielen Stellen in Wagners Werken thematisiert und erlebbar gemacht“, sagt Prof. Dr. Hartmut Göbel, Migräne-Spezialist und Chefarzt der Schmerzklinik Kiel. Und das ist keineswegs Zufall. In einer Studie ist es Göbel und seinen Mitautoren gelungen zu belegen: Der Komponist wurde von tagelangen schweren Migräne-Attacken geplagt – und sein Leiden daran floss in seine Kompositionen mit ein. „Richard Wagner hat sein Schmerzerleben in Musik, Dichtung und Inszenierung als Gesamtkunstwerk umgesetzt. Nachfolgende Generationen können so unmittelbar Richard Wagners Empfindungen und Wahrnehmungen miterleben“, sagt Göbel.

Die Untersuchung zeigt dies u.a. am Beispiel des Beginns des ersten Aktes von Wagners Oper Siegfried: Ein anschwellendes Brummen, die Steigerung zu einem pulsierenden, pochenden Rhythmus mit schrillem Hämmern, dann der Ausruf des Sängers: „Zwangvolle Plage! Müh’ ohne Zweck!“ Für die Schmerzforscher besteht kein Zweifel, dass Wagner hier den Beginn eines Migräne-Anfalls vertont hat. Von der Ankündigung mit dumpfem Pochen bis zur Pulsation der Schmerzen auf dem Höhepunkt der Attacke: Der klassische Verlauf eines Migräneanfalls lässt sich Takt für Takt an der Musik nachvollziehen.  Die Experten fanden sogar Passagen, in denen Wagner eine Aura – die neurologischen Begleitsymptome einer Migräne mit Flimmern vor den Augen-, in einer flirrenden, flackernden Melodielinie mit Zick-Zack-Muster vertonte und szenisch umsetzte. Die experimentelle Flimmerfrequenz im Forschungslabor während einer Migräneaura stimmt dabei mit dem von Wagner gewählten musikalischen Tempo überein.

Cosima Wagner (geborene Liszt), Richard Wagner, Franz Liszt und Hans von Wolzogen in der Villa Wahnfried, Bayreuth, Oberfranken, Deutschland. Richard Wagner trug in der Regel auch in geschlossenen Räumen eine Kopfbedeckung, was zu seiner Zeit als Standardvorbeugung gegen Kopfschmerzen galt. Gemälde von Wilhelm Beckmann 1881. Quelle: Richard Wagner Museum, Luzern.

In den Lebenserinnerungen und Briefen von Richard Wagner sowie in den Tagebuchaufzeichnungen seiner zweiten Ehefrau Cosima Wagner, wird das schwere Kopfschmerzleiden von Richard Wagner eingehend beschrieben. Der Komponist selbst beklagte detailliert seine „nervösen Kopfschmerzen“ während der Arbeit an der Komposition der Oper Siegfried.

Bei der Analyse von Wagners Aufzeichnungen und Briefwechseln stellten die Wissenschaftler fest: An vielen Stellen ist dessen Werk zwar von seinem Leiden inspiriert. Oft machte ihm die Migräne das Komponieren aber auch gänzlich unmöglich. Dann waren die Schmerzen so stark, dass er „nicht einen Takt mehr niederschreiben“ konnte. Tatsächlich unterbrach der Komponist seine Arbeit an der Siegfried-Oper und den Ringzyklus für mehr als ein Jahrzehnt.

„Zu Wagners Zeiten gab es noch keine effektive Therapie gegen Migräne“, sagt Hartmut Göbel. „Heute könnten wir ihn wirksam behandeln.“ Vermutlich hätte Wagner dann deutlich mehr und noch komplexere Werke schreiben können. Die Frage sei aber auch: „Wie hätten sich diese dann angehört?“

In einem Video zur Publikation erklären die Forscher mit Musikbeispielen aus der viel beachteten Inszenierung der Oper Siegfried (2009) von Anthony Pilavachi am Theater Lübeck, wie Richard Wagner die Migräne in seinem Werk umsetzte.

Link zum deutsprachigem Video zur Publikation

Die Originalstudie der Autoren Carl Göbel, Anna Göbel und Hartmut Göbel erscheint am Freitag, 13.12.2013, in der renommierten Weihnachtsausgabe des British Medical Journal:

Göbel CH, Göbel A, Göbel H: “Compulsive plague! Pain without end!” How Richard Wagner played out his migraine in the opera Siegfried. BMJ 2013;347:6952

Public link to paper: http://www.bmj.com/cgi/doi/10.1136/bmj.f6952
Link to english video abstract: http://youtu.be/Mg1z9RoZR50
Link to BMJ Press Release

Kontakt:

Prof. Dr. Hartmut Göbel,
Schmerzklinik Kiel, Migräne- und Kopfschmerzzentrum
Heikendorfer Weg 9-27, 24149 Kiel
Tel.: 0431-20099150
Email: hg@schmerzklinik.de
Web: https://schmerzklinik.de