Hochzeitsbild von Cosima und Richard Wagner

Hochzeitsbild von Cosima und Richard Wagner

Das Interview zum Wagner-BMJ Artikel mit Liliane Jolitz von den Lübecker Nachrichten

Lübecker Nachrichten: Als Migräne-Experte sind Sie weit über Deutschland hinaus bekannt. Offenbar sind sie auch Wagner-Kenner?

Hartmut Göbel: Vor einigen Jahren habe ich einen bedeutenden Dirigenten aus Bayreuth behandelt. Über ihn hatte ich Gelegenheit, den „Ring des Nibelungen“ in Bayreuth zu erleben. Ich selbst spiele zwar Orgel und Klavier, hatte bis dahin aber keine tiefere Beziehung zu Wagner. Ich habe ein, zwei Jahre gebraucht und hatte dann das Glück, dass in Lübeck der „Ring“ aufgelegt worden ist in der Inszenierung von Anthony Pilavachi. Seit dieser Zeit habe ich mich der Wagner-Welt geöffnet. Und sie lässt mich nicht mehr los.

LN: Was ist für Sie das Fesselnde bei Wagner?

Göbel: Es eröffnen sich einem Erlebnisweisen, tiefgründige Wahrnehmungen und Gefühle, die in der Musikgeschichte nur Wagner so einzigartig vermittelt. So kam ich zu Wagner – ohne Lübeck wäre das nicht möglich gewesen.

LN: Wie sind Sie darauf gekommen, dass Wagner Migräne gehabt haben könnte?

Göbel: Ich saß in Lübeck in der Premiere von „Siegfried“ und hörte die ersten Takte. Das ebenmerklich wahrnehmbare Paukentremolo leitet den ersten Akt ein, es vermittelt ein Brummen im eigenen Kopf. Die Streicher fügen die ersten leichten Pulsationen hinzu. Ankündigungssymptome der Migräne werden unmittelbar erlebbar, die Zündschnur der Migräne glimmt bereits. Takt für Takt baut sich der Anfall auf, beim Schwertmotiv eskaliert das Pochen, es hämmert und pulsiert wie im Höhepunkt einer Migräne. Anthony Pilavachi hat dies in seiner Inszenierung treffend  inszeniert,  Stuart Patterson als Mime direkt mitfühlbar umgesetzt. Mime fasst sich an die Schläfen, verzerrt das Gesicht vor Schmerz, sucht Halt am Türrahmen, lässt sich dann schmerzverzerrt zu Boden sinken. Als Gesamtkunstwerk erleben Sie einen Migräneanfall, so wie er in der aktuellen Kopfschmerzklassifikation nicht präziser beschrieben werden kann. Und dann singt Mime auch noch verzweifelnd „Zwangvolle Plage, Müh’ ohne Zweck“, gleitet auf den Boden und schützt sich seinen Kopf mit den Händen. Aber damit nicht genug: In der dritten Szene des ersten Aktes lässt Richard Wagner eine Migräneaura miterleben. Die Melodielinie szintilliert und flackert, übrigens exakt mit dem gleichen Tempo wie eine tatsächliche Migräneaura in Labormessungen.  Auch mit Worten drückt Mime die Sehstörungen während eines Migräneanfalls angsterfüllt aus, in Lübeck ebenfalls hervorragend sinnesphysiologisch treu inszeniert mit Flackerlicht und Flimmern: „Was flammt dort die Luft! Was flackert und lackert, was flimmert und schwirrt“. Solche Worte kann man nur finden, wenn wann die Sehstörungen während einer Migräneaura selbst erlebt hat.

LN: Der Komponist kannte also den Migräne-Verlauf genau?

Göbel: In der Pause habe ich meine Frau noch vom ersten Akt in Atem gehalten gefragt: „Woher wusste Wagner, wie das abläuft? Hat er selber Migräne gehabt?“ Meine Frau antwortete: „Na klar hat er Migräne gehabt.“ Ich hatte nirgendwo davon gehört oder gelesen, war aber wie meine Frau der Überzeugung: Wenn er so eine Musik schreiben kann, dann kann er es eigentlich nur selbst erlebt haben.

LN: Ist schon zu diesem Zeitpunkt der Gedanke entstanden, die Angelegenheit näher zu erforschen?

Göbel: Erst nach ein oder zwei Jahren. Aber die Szene ließ mich nicht los. Wir haben wohl fünf oder sechs Mal in Lübeck „Siegfried“ gehört. Ich habe während der folgenden Sommerurlaube die Lebenserinnerungen und Briefe von Wagner gelesen und die Tagebuchaufzeichnungen von Cosima Wagner, seiner zweiten Ehefrau. Da wurde mir nach wenigen Seiten eindeutig klar, dass Richard Wagner an schwerster Migräne gelitten hat, sie sogar als die Hauptplage seines Lebens beschrieb.

LN: Wagner selbst gebraucht den Begriff Migräne aber nicht.

Göbel: Als er den „Siegfried“ geschrieben hat, hat er von ständigen schweren Kopfschmerzen berichtet. Er spricht meist von „nervösen“ Kopfschmerzen – eine sehr gute Beschreibung für Migräne und deren Begleitsymptome.

LN: Gab es den Begriff Migräne noch nicht, oder war bei ihm keine entsprechende Diagnose gestellt worden?

Göbel: Der Begriff war damals noch nicht geläufig. Übrigens beschrieb Cosima bei sich selbst und den gemeinsamen Kindern sehr häufig Kopfschmerzen. Selbst einen ausgewachsenen Ehekrach wegen Kopfschmerzen zwischen Richard und Cosima beschreibt sie in ihren Tagebuchaufzeichnungen. Vor 150 Jahren gab es auch noch keine Schmerzmittel, kein Aspirin, kein Ergotamin, keine Triptane. Chronische Schmerzen haben die Menschen noch viel stärker als heute behindert. Wir können dankbar sein, dass wir in dieser Hinsicht in der heutigen Zeit leben.

LN: Sie halten es für erwiesen, dass Wagner Migräne hatte?

Göbel: Daran gibt es aufgrund unserer ausführlichen Analysen keinen Zweifel. Und trotzdem hatte sich dies in der wissenschaftlichen Literatur bisher nicht niedergeschlagen. Bei der Arbeit an Siegfried war Wagner gesundheitlich, insbesondere nervlich, sehr angegriffen. In einem Brief an Franz Liszt beklagte er seine nervenzersägenden Kopfschmerzen eingehend, er beschrieb seinen Kopf als „verstimmtes Klavier“ und beklagte sein Dasein als Hundeleben.  Es war ein genialer Einfall, in dieser Not einen Migräneanfall als „große Oper“ umzusetzen. Wagner war wie kein anderer in der Lage, Gefühle beispiellos miterlebbar in Musik und Inszenierung zu übertragen. Das war für ihn der Zweck von Kunst überhaupt: Gefühle für andere unmittelbar in einem Gesamtkunstwerk erlebbar zu machen. Seine Werke lassen uns heute seine tiefsten Gefühlsinhalte nachempfinden.

LN: Sie sagen, dass Wagner mehr und noch komplexere Werke hätte schreiben können, wenn er nicht unter Migräne gelitten hätte.

Göbel: Wagner brach mitten im zweiten Akt die Arbeit an Siegfried für viele Jahre ab. Der Ringzyklus war zu komplex, er konnte wegen seines Gesundheitszustandes diese Komplexität nicht mehr bewältigen und vollenden. Rund zwölf Jahre hat er die Arbeit daran unterbrochen und sich einfacheren Themen zugewandt. Auch diesen Zeitsprung kann man zwischen den zweiten und dritten Akt von Siegfried direkt miterleben. Wenn er mit den heutigen Möglichkeiten hätte behandelt werden könne, hätte er „Siegfried“, vielleicht zügig durchkomponieren können und die Musikgeschichte wäre anders verlaufen. Viele Menschen, die Migräne haben, müssen auch heute noch ihren Beruf an den Nagel hängen. Schüler können monatelang nicht zur Schule gehen. Studenten brechen ab. Ein berühmtes Beispiel ist u.a. Marie Curie, die als Zwanzigjährige ihr Studium aufgeben wollte, weil sie an schwerster Migräne litt. Sie hat aber doch weitergemacht und später bekanntlich zwei wissenschaftliche Nobelpreise bekommen. Gerade viele junge Menschen treten auch heute trotz hoher Kreativität in einfachere Ausbildungen und Berufe zurück, die sie nicht so stark fordern.

LN: Hören Sie Wagners Musik jetzt anders?

Göbel: Ja, eindeutig. Mit jedem Hören erschließen sich neue Wahrnehmungen, Emotionen und Gedanken. Richard Wagners „Erinnerungsmotive“ wirken besonders dann, wenn man sie wiederholt und doch immer neu aufnimmt. Als Neuling kann man damit oft nichts anfangen. Es benötigt eine Menge Aktivierungsenergie, bis die Reaktion von alleine abläuft. Dann aber eröffnen sich Welten mit immer neuen Bewusstseins- und Erlebnisinhalten. Wahrscheinlich deshalb spricht Wagner vielleicht weltweit so viele Menschen an. Mit jedem Hören hört man mehr und neue Zusammenhänge. Daher kann man von Wagners Opern auch nie genug bekommen.