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Aufgrund der großen Häufigkeit der Migräne ist es nicht erstaunlich, dass in manchen  Familien mehrere Personen an Migräne leiden. Schon im 19. Jahrhundert ging man deshalb davon aus, dass Migräne vererbt werde. Es wurde eine große Reihe von Untersuchungen durchgeführt, um diese Hypothese zu untermauern.

Bei der Entstehung der Migräne spielen Erbfaktoren eine entscheidende Rolle. Mehr als 70 % der Betroffenen kennen Familienangehörige ersten Grades (Eltern, Geschwister oder Kinder), die ebenfalls unter Migräne leiden. Kinder von Migränepatienten haben ein im Vergleich zu Gleichaltrigen um den Faktor 2 bis 4 erhöhtes Risiko, ebenfalls eine Migräne zu entwickeln. Für eine Unterform der Migräne, die familiäre hemiplegische Migräne, konnten inzwischen zugrunde liegende Gendefekte identifiziert werden. Diese sind verantwortlich für die bei Migränepatienten so charakteristische Überempfindlichkeit gegenüber vielfältigen inneren und äußeren Reizen, den sogenannten Triggerfaktoren.

Hierzu zählen u. a. Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, hormonelle Schwankungen, Veränderung des Blutzuckerspiegels oder des aktuellen Stressniveaus, ungewohnte körperliche Belastungen oder Geruchs-, Lärm- oder Flackerlichtbelästigungen. Das bedeutet, dass zwar die genetische Veranlagung für die Migräne über die Generationen weitergegeben wird, ob eine Migräne im Einzelfall dann aber tatsächlich auftritt und wenn ja, wie stark und wie häufig, ist aber weitestgehend von Umweltfaktoren abhängig.

Migräne ensteht durch veränderte Signalübertragung und Störung der Energieversorgung von Nervenzellen im Gehirn

Bei Betrachtung der Studien wird deutlich, dass Eltern und Kinder von Migränepatienten eine größere Wahrscheinlichkeit für Migräne aufweisen als andere Menschen. Dieses Fazit legt nahe, dass Vererbungsfaktoren eine wichtige Rolle spielen, jedoch Lernfaktoren und Verhalten ebenso im Vordergrund stehen. Die moderne Migräne- und Genforschung hat sehr wichtige weitere Einblicke in die Migräne Entstehung ermöglicht.

Ein Forscherteam der Schmerzklinik Kiel und des Instituts für Humangenetik in Universität Bonn/Köln entdeckte im Jahre 2005 erstmals bei Patienten mit den am weitesten verbreiteten Migräneformen spezifische Veränderungen im menschlichen Erbgut auf Chromosom 1. Diese stören die Erregbarkeit der Nervenzellen. Bei zu schneller oder zu lang andauernder Überlastung kann ein Zusammenbruch der Energieversorgung der Nerven die Folge sein. Die Steuerung der Nervenfunktion entgleist. Schmerzauslösende Botenstoffe werden von den Nervenzellen ungehindert freigesetzt und verursachen die hämmernden Migränekopfschmerzen.

Migränepatienten sind durch eine Besonderheit der Reizverarbeitung im Gehirn gekennzeichnet. Ihr Nervensystem steht ständig unter »Hochspannung«. Reize werden früher und schneller vom Gehirn aufgenommen und flinker verarbeitet. Bisher war weitestgehend unbekannt, warum das Gehirn von Migränepatienten anders schaltet.

Mit den Ergebnissen hat das Forscherteam einen wichtigen Schlüssel zum Migräneerbgut entdeckt. Bisher waren nur Erbgutveränderungen für extrem seltene Migräneunterformen bekannt. Die Wissenschaftler untersuchten über vier Jahre Familien, in denen mehrere Personen entweder an einer Migräne mit Aura oder an einer Migräne ohne Aura leiden. Es handelt sich dabei um die häufigsten Migräneformen, die für mehr als 99 % aller Migräneattacken verantwortlich sind. Das Kiel-Kölner Forscherteam suchte deutschlandweit nach Familien, in denen mindestens zwei Mitglieder an einer Migräne mit Aura litten. In der Studie wurden Mitglieder von 45 Familien untersucht, in denen im Durchschnitt vier Personen erkrankt waren. In einer Familie konnten sogar zehn betroffene Patienten identifiziert werden. Die Migräneformen wurden anhand der neuesten international standardisierten Kopfschmerzkriterien diagnostiziert. Von den betroffenen und nicht betroffenen Familienmitgliedern wurden Blutproben genommen. Das Erbgut wurde nach genauer Diagnostik der Migräneformen von der Schmerzklinik Kiel in das Institut für Humangenetik der Universität Bonn bzw. Köln geschickt, wo sein Aufbau mittels spezieller Techniken analysiert wurde.

Das Forscherteam konzentrierte sich in dieser Studie auf den Chromosom 1-Bereich, in welchem bereits zuvor bei einer extrem seltenen Unterform der Migräne Genveränderungen gefunden worden waren. Dieses fokussierte Zentrum beinhaltet eine Erbanlage für eine spezifische Ionenpumpe des Gehirns, deren Funktion die Steuerung der Erregbarkeit und die Energieversorgung von Nervenzellen sind. Erstmalig konnte das Wissenschaftlerteam dort zwei bisher unbekannte Gen-Veränderungen bei Patienten entdecken, die an der weit verbreiteten Migräne mit Aura leiden. Diese Veränderungen fanden sich nur in betroffenen Mitgliedern von Migränefamilien, nicht jedoch bei gesunden Kontrollpersonen. Weitere Untersuchungen zeigten, dass eine dieser Erbgutveränderung tatsächlich zu einem Verlust der Funktion der Ionen-Pumpe und damit wahrscheinlich auch zu einer Störung der Nervenerregbarkeit führt. Folge kann daher ein Zusammenbruch der Energieversorgung in den Nervenzellen bei übermäßiger oder plötzlicher Reizung des Nervensystems von Migränepatienten sein. In der Folge werden schmerzauslösende Nervenbotenstoffe übermäßig freigesetzt. Diese verursachen die Migräneschmerzen und Begleitsymptome während des Migräneanfalles.
Die Forschungsergebnisse sind für die zukünftige Diagnostik und Behandlung der Migräne bedeutsam. Migränepatienten sollten einen gleichmäßigen Tag-Nacht-Rhythmus einhalten. Abrupte und intensive Reizveränderungen sollten vermieden werden. Eine regelmäßige und kohlenhydratreiche Ernährung mit ausreichendem Angebot an Vitamin B2 kann die Energieversorgung der Nervenzellen stabilisieren.

Entspannungstrainings, Biofeedbacktherapie und Stressbewältigungstrainings beugen einer übermäßigen Nervenerregung vor und reduzieren den Energieverbrauch in den Nervenzellen. Im Anfall stoppen spezifische Migränemedikamente, die Triptane, die Freisetzung schmerzauslösender Nervenbotenstoffe. Vorbeugende Medikamente können den Energieverbrauch in den Nervenzellen normalisieren.

Risikofaktor für Migräne ohne Aura und Migräne mit Aura auf Chromosom 8

Wissenschaftler der Schmerzklinik Kiel und der Universität Köln/ Ulm haben im Rahmen einer internationalen Kooperation gemeinsam mit Forschern u. a. des Wellcome Trust Sanger Institute (Cambridge), der Ludwig-Maximilians-Universität München und des Leiden University Medical Center im Jahr 2010 erstmalig einen genetischen Risikofaktor identifiziert, der mit der Migräne mit und ohne Aura in Zusammenhang steht.

Die gefundene genetische Variante auf Chromosom 8 steuert über die in der Nachbarschaft liegenden Gene PGCP und MTDH die Menge des Nervenüberträgerstoffes Glutamat in den Nervenübergängen. Glutamat aktiviert wichtige Nervenfunktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration und Wahrnehmung.

Die neue Entdeckung wird als entscheidend für den Start der häufigsten Migräneattacken angesehen. Sie ermöglicht neue Einblicke in die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten der Volkskrankheit Migräne. Durch eine internationale einzigartige Vernetzung von 65 Forschern aus 13 Ländern in der bisher weltweit größten Migränestudie ist es erstmalig gelungen, eine Genvariante für die häufigsten Formen der Volkskrankheit Migräne zu entdecken. Frühere Studien konnten bisher nur bei seltenen Unterformen der Migräne mit Aura Genveränderungen finden. Die jetzt aufgedeckte Genvariante auf Chromosom 8 ist bei Migräne mit oder ohne neurologische Begleitsymptome zu finden.

Die Forscher hatten bereits in früheren Untersuchungen Genorte entdeckt, die für sehr schwere, aber seltene Unterformen der Migräne verantwortlich gemacht werden konnten. Offen war jedoch, welche Risikofaktoren im Erbmaterial für die weit verbreitete übliche Migräne, also für die Migräne mit und ohne Aura, verantwortlich sind. Zur Erarbeitung der Daten wurden dabei von einer Forschergruppe der Schmerzklinik Kiel über mehrere Jahre in Deutschland Blutproben von betroffenen Patientinnen und Patienten sowie deren Familienmitgliedern gesammelt und klassifiziert.

Auf der Suche nach dem Schlüssel für die gewöhnliche Migräne wurde das Erbgut von insgesamt über 6.000 Migränepatienten mit denen von gesunden Kontrollpersonen verglichen. Forscher aus über 13 Ländern waren dabei international vernetzt. Die Patientengruppe aus der Schmerzklinik Kiel war im Netzwerk eine der größten Untergruppen, die die jetzige Identifizierung der Genvariante ermöglichte.

Völlig unerwartet konnten so die Grundlagenforscher eine Variante auf Chromosom 8, genannt rs1835740, als ersten jetzt bekannten genetischen Risikofaktor für Migräne aufschlüsseln. In der Ausgangsstudie wurde initial Genmaterial von über 2.500 Migränepatienten und 10.000 gesunden Menschen verglichen. Aufgrund des unerwarteten Befundes wurde in einer zweiten sehr umfangreichen Replikations- Untersuchung an über weiteren 3.200 Migränepatienten und 40.000 Kontrollpersonen dieser Genort erneut überprüft. Das internationale Migränenetzwerk konnte dabei seinen initialen Verdacht bestätigen.

Nervale Erregbarkeit und Glutamat

Durch einen u. a. genetisch bedingten hohen Glutamatspiegel scheint es möglich, dass die Übertragung der Nervenimpulse über den sog. synaptischen Spalt zwischen den Nerven sehr schnell, nachhaltig und intensiv erfolgt. Stress und unregelmäßiger Tagesrhythmus sind die stärksten Migräneauslöser.

Wird das Nervensystem zu stark, zu intensiv, zu übermäßig und zu plötzlich aktiviert, können zunächst eine Überaktivierung und schließlich eine Erschöpfung der Überträgerstoffe resultieren. Die nervale Steuerung könnte entgleisen und sekundär Entzündungsstoffe im Nervensystem freisetzen. Diese können zu einer schmerzhaften Entzündung von Blutgefäßen der Hirnhäute führen, die den pulsierenden und pochenden Migränekopfschmerz bedingen.

Die jetzt gefundenen Forschungsansätze erleichtern es zukünftig, gezielter in die Grundlagen der Migräneentstehung einzugreifen. Aus aktuellen klinischen Untersuchungen ist bekannt, dass Betroffene sich bei häufigen Attacken durch eine hohe Empfindlichkeit des Nervensystems und des Schmerzwahrnehmungssystems charakterisieren. Sowohl Verhaltens- und Erlebensfaktoren, die die übermäßige Aktivierung von Glutamat-Level bedingen, könnten jetzt gezielt in klinischen Forschungsprogrammen aufgegriffen werden. Die spezielle Entwicklung von Substanzgruppen, die zu einer Normalisierung der Glutamatspiegel führen, könnte einen weiteren Schritt in der erfolgreichen zukünftigen Vorbeugung von Migräneanfällen bilden.

Migräne wird heute als progressive Erkrankung des zentralen Nervensystems aufgefasst. Durch langanhaltende und hochfrequente Migräneattacken entstehen strukturelle Veränderungen im Nervensystem. Eine Reihe von Begleiterkrankungen wird dadurch begünstigt. Diese schließen im neurologischen Bereich Epilepsie, Medikamentenübergebrauchskopfschmerz und Schlaganfall ein, auf dem Gebiet der Psychiatrie Depressionen, Angst- und Panikerkrankungen, im internistischen Bereich Herzinfarkte, koronare Herzerkrankungen und Bluthochdruck.

Die ständige Überaktivierung des Nervensystems durch erhöhte Glutamatspiegel könnte auch bei dem Auftreten anderer Erkrankungen neben der Migräne eine entscheidende Rolle spielen. Der aufgefundene genetische Risikofaktor auf dem Chromosom 8 könnte als eine gemeinsame Grundlage dieser vielfältigen Erkrankungen relevant sein.