Vorbeugen mit Medikamenten

Mit der Einführung der Triptane zur Attackentherapie hat sich der Stellenwert der medikamentösen Migräneprophylaxe verändert. Die große Bedeutung der vorbeugenden medikamentösen Therapie beruhte in der Vergangenheit auf der Tatsache, dass wirksame und gut verträgliche Substanzen zur Attackenkupierung nicht ausreichend vorhanden waren. Primäres Ziel der Prophylaktika war es daher, die Zahl der Migräneattacken zu reduzieren.

Die weiterhin auftretenden Migräneattacken mussten mangels effektiver oder verträglicher Akuttherapie dann jedoch meist durchlitten werden. Damit sahen sich die Betroffenen vor die Alternative gestellt, zwischen häufigen und unter Umständen schlecht behandelbaren Migräneattacken ohne medikamentöse Prophylaxe, oder möglicherweise selteneren Migräneattacken mit medikamentöser Prophylaxe zu wählen. Die Entscheidung fiel in der Regel zugunsten der medikamentösen Prophylaxe aus. Als geringeres Übel mussten die Patienten dann die Nebenwirkungen hinnehmen – sofern nur die gewünschte Wirkung zu erreichen war.

Heute haben sich die Bedürfnisse der Patienten grundlegend verändert. Steht einem Migränepatienten eine verträgliche und effektive Akutmedikation zur Verfügung, wird er einer vorbeugenden Behandlung – die mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit mit Nebenwirkungen einhergeht und deren Wirkung auch noch unsicher ist – eher ablehnend gegenüber stehen. Dies gilt insbesondere, wenn man sich das übliche Wirksamkeitskriterium für die medikamentöse Vorbeugung vor Augen hält, welches lediglich eine 50 prozentige Abnahme der Attackenzahl fordert. Eine Reduktion der Einnahmehäufigkeit eines wirksamen Triptans von 6 Tagen auf 3 Tagen im Monat bei einer Verschlechterung des Allgemeinbefindens an den übrigen 27 Tagen im Monat, sehen Patientinnen und Patienten erfahrungsgemäß und verständlicherweise nicht als erstrebenswerten Erfolg an.

Entscheidung zur medikamentösen Vorbeugung

Trotz der heute hocheffektiven medikamentösen Attackentherapie gibt es eine Reihe von Gründen für die medikamentöse Vorbeugung. Zum einen gibt es auch weiterhin Patienten, die vom Fortschritt der Triptane nicht profitieren können, weil bei ihnen entweder Gegenanzeichen für die Einnahme vorliegen (z.B. eine koronare Herzkrankheit) oder sie zu der Minderheit von Patienten gehören, bei denen Triptane nicht wirksam oder nicht verträglich sind. Zum anderen – und dies ist ein entscheidendes Argument für die Migräneprophylaxe – besteht auch bei Einsatz von Triptanen das Risiko der Entstehung von medikamenteninduzierten Kopfschmerzen.

  • Als wichtigste Grundregel in der Migräneakuttherapie gilt, dass die Einnahme von Kopfschmerzakutmedikation (Triptane wie Schmerzmittel) maximal an zehn Tagen pro Monat erfolgen sollte. Mit anderen Worten: An 20 Tagen pro Monat sollte keine Migräneakutmedikation verwendet werden.

Bestehen Migränebeschwerden an einem 11., 12. oder 13. Tag im Monat, gilt die Regel, dass der Patient diese Beschwerden ohne Akutmedikation durchstehen sollte, will er nicht das Risiko der Entstehung eines MÜK (Medikamentenübergebrauchs-Kopfschmerzes) eingehen. Folglich liegt das primäre Ziel der medikamentösen Migräneprophylaxe heute in der Reduktion der Tage, an denen Migränebeschwerden auftreten und damit die Einnahmehäufigkeit von Akutmedikamenten zu senken. Denn das übergeordnete Ziel muss es sein, die Entstehung eines MÜK zu verhindern. Damit ist für die Entscheidung zur Migräneprophylaxe weniger die Häufigkeit der Migräneattacken bedeutsam, als vielmehr die Zahl von Migränetagen im Monat.

Eine medikamentöse Migräneprophylaxe ist notwendigerweise eine Dauertherapie. Aus Sicht des Migränepatienten ist eine solche Dauertherapie nur akzeptabel bei guter Wirksamkeit und gleichzeitig guter Verträglichkeit. Darüberhinaus ist eine Unbedenklichkeit im Langzeiteinsatz Grundvoraussetzung. Hieraus leiten sich allgemeine Regeln für das Erreichen dieser Ziele ab.

Nur bei Migräne wirksam

Die medikamentöse Migräneprophylaxe ist ein spezifisches Verfahren zur Behandlung der Migräne – nicht von häufigen Kopfschmerzen generell. Insbesondere Kopfschmerzen aufgrund eines MÜK bleiben praktisch unbeeinflusst. Hier ist die Medikamentenpause (drug holiday) Therapie der ersten Wahl. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, sind die eingesetzten Substanzen auch bei chronischem Kopfschmerz vom Spannungstyp oder Clusterkopfschmerz ineffektiv. Eine medikamentöse Migräneprophylaxe hat damit tatsächlich auch nur bei Migräne Erfolgsaussichten.

Die Dosis muss stimmen

Neben der Auswahl der Substanz, hängt die Effektivität einer medikamentösen Migräneprophylaxe entscheidend von der eingesetzten Dosis ab. Häufigster Grund für das Scheitern einer Prophylaxe ist eine zu geringe Dosierung.

Die Migräneprophylaktika wirken keinesfalls sofort: Meist verstreichen 2 bis 8 Wochen, bis es zu einer merklichen Abnahme der Migränehäufigkeit kommt. Die Beurteilung der Effektivität einer Substanz sollte daher erst nach 8 bis 12 Wochen erfolgen.

Es gibt praktisch keine Untersuchungen darüber, wie lange eine Migräneprophylaxe fortgeführt werden sollte. Eine kurze Einnahme über wenige Wochen führt jedoch in der Regel zu keiner anhaltenden Wirkung. Empfohlen werden Zeiträume von sechs bis neun Monaten.

Die Migräneprophylaxe führt in der Regel nicht zu einer kompletten Migränefreiheit – lediglich die Pausen zwischen den Attacken werden länger. Hierüber muss der Patient aufgeklärt sein, damit er nicht bei Auftreten der nächsten Migräneattacke nach Beginn einer Prophylaxe diese aufgrund vermeintlich mangelnder Wirksamkeit abbricht.

Langsam die Dosis steigern

Während bei einigen Migräneprophylaktika die Zieldosis sofort eingesetzt werden kann, ist bei den meisten Substanzen eine vorsichtige und langsame Erhöhung der Dosis erforderlich, um die Nebenwirkungen zu minimieren. Die Geschwindigkeit der Aufdosierung sollte dabei individuell angepasst erfolgen. Für Betarezeptorenblocker, trizyklische Antidepressiva, Valproinsäure oder auch Topamax sollten mehrere Wochen für die Aufdosierung vorgesehen werden. Bei einigen Medikamenten ist die Migränevorbeugung im Beipackzettel nicht aufgeführt, trotzdem kann deren Wirksamkeit durch aktuelle Studien bekannt sein.

Nebenwirkungen möglich

In der Migräneprophylaxe kommen auch Substanzen zum Einsatz, die trotz Einhaltens aller Anwendungsvorschriften potenziell bleibende Gesundheitsschäden hervorrufen können. Da es sich bei der Migräne um eine Erkrankung handelt, die mit Ausnahme des seltenen migränösen Infarktes selbst zu keiner Organschädigung führt, ist eine solche Komplikation durch eine medikamentöse Behandlung letztlich nicht akzeptabel.

Substanzen, deren Dauereinnahme zur Entstehung eines MÜK führen kann, sind grundsätzlich nicht für eine Migräneprophylaxe geeignet. Hierzu zählen Schmerzmittel ebenso wie Ergotalkaloide – auch wenn bei deren Einsatz vorübergehend die Migränehäufigkeit zunächst abnehmen kann.

Auswahl der Migräneprophylaktika

Die Therapieempfehlungen für die Behandlung der akuten Migräneattacke unterscheiden sich international nur wenig. Kontrollierte Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit und Verträglichkeit von Akuttherapeutika sind verhältnismäßig einfach durchzuführen und die Ergebnisse sind problemlos von Land zu Land übertragbar. Entscheidend für die Uniformität der Empfehlungen ist auch, dass in der Akuttherapie unbestritten hochwirksame Substanzen zur Verfügung stehen. Damit können eindeutige, „harte“ Effektivitätsparameter wie z.B. Schmerzfreiheit innerhalb von zwei Stunden zum Wirksamkeitsvergleich in Studien gewählt werden.

Bei der medikamentösen Vorbeugung ist die Sachlage weniger eindeutig. Bisher steht keine Substanz zur Verfügung, die zuverlässig das Auftreten von Migräneattacken verhindern kann.

Die Wirksamkeitsparameter tragen dieser Tatsache Rechnung. Der gebräuchlichste Parameter ist daher nicht – wie naheliegend – das Erreichen von Attackenfreiheit, sondern lediglich eine Attackenreduktion um 50 Prozent. Auch dieser Zielwert wird bei den effektivsten Substanzen im optimalen Fall bei nur ca. 60 Prozent der Patienten erreicht. Kontrollierte Studien in der Migräneprophylaxe sind notwendigerweise komplex. Es sind zum einen zwangsläufig Langzeitstudien. Sie sind sowohl für den Patienten, der kontinuierlich Tagebuch führen muss, als auch für den Untersucher aufwändig. Aufgrund der relativ geringen und meist eher schlechten Wirksamkeit sind Studienabbrüche häufig und ausreichende Fallzahlen schwer zu erreichen.

Ein besonderes Problem stellt der wissenschaftlich unumgängliche Einsatz von Placebos zu Vergleichszwecken dar. Bei einem Placebo handelt es sich um ein identisch aussehendes Medikament ohne wirksamen Inhaltsstoff. In einer placebokontrollierten Studie zur Prüfung eines Medikamentes zur Attackenbehandlung kann der Patient bei fehlender Wirksamkeit nach kurzer Zeit auf ein Ersatzmedikament ausweichen. Die mögliche Einnahme eines Placebos wird daher von den Patienten meist toleriert, zumal sich die Studie in der überwiegenden Zahl der Fälle nur auf eine bis maximal drei Migräneattacken erstreckt.

Die Teilnahme an einer placebokontrollierten Prophylaxestudie hingegen bedeutet für einen Teil der Patienten die Einnahme eines Placebos über Monate, ohne dass sie die Möglichkeit hätten, auf ein wirksameres vorbeugendes Medikament umzusteigen. Hierzu sind Patienten nur bedingt bereit. Die Folge sind zum einen Studien mit geringen Fallzahlen und damit auch geringer Aussagekraft. Gerade für Vergleichsstudien zwischen verschiedenen Prophylaktika, die sich in ihrer Effektivität weniger unterscheiden als gegen Placebo, wären jedoch größere Fallzahlen wichtig.

Zum anderen sind durch die Auswahl der Patienten bedingt Selektionsfehler kaum zu vermeiden. In placebokontrollierten Studien mit potenziell nebenwirkungsträchtigen, aber auch potenziell effektiven Substanzen finden sich überproportional viele Patienten mit überdurchschnittlich häufigen, schweren und langen Attacken. Herkömmliche Prophylaktika waren im Vorfeld bereits nicht ausreichend wirksam – kurz, es handelt sich um die sogenannten Problempatienten in spezialisierten Kopfschmerzbehandlungszentren.

Die Studienergebnisse der Substanzen werden in diesem Fall schlechter ausfallen, als wenn der durchschnittliche Patient behandelt worden wäre. Im Gegensatz dazu werden voraussichtlich gut verträgliche, potentiell jedoch eher weniger wirksame Medikamente (insbesondere auch pflanzliche Präparate) häufig außerhalb der spezialisierten Zentren an Patienten getestet, die in geringerem Maße von Migräne betroffen sind, was Häufigkeit und Intensität der Attacken angeht. Hier fallen die Studienergebnisse dann relativ gesehen zu gut aus. Die Folge dieser Selektionsfehler ist, dass auf dem Papier letztlich alle Prophylaktika im Placebovergleich ungefähr gleich wirksam sind.

Erst in der Praxis zeigen sich dann die wahren Effektivitätsunterschiede. Zu vermeiden wäre dies letztlich nur durch Vergleichsstudien der verschiedenen Prophylaktika untereinander – Studien, die aus den oben angesprochenen Gründen meist fehlen. Ein Vergleich der verschiedenen Migräneprophylaktika ist damit gezwungenerweise in einem beträchtlichen Maße subjektiv, womit die Unterschiede auch in offiziellen Therapieempfehlungen verschiedener Fachgesellschaften zu erklären sind.

In nachfolgenden Tabellen 1 und 2 sind exemplarisch die Therapieempfehlungen der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft aus dem Jahre 2012  aufgeführt.

Tabelle 1: Substanzen zur Migräneprophylaxe mit guter Evidenzlage

Substanzen Dosis Nebenwirkungen Kontraindikationen
Metoprolol

Propranolol

Bisoprolol

50-200 mg

40-240 mg

5-10 mg

H: Müdigkeit, arterielle Hypotonie
G: Schlafstörungen, SchwindelS: Hypoglykämie, Bronchospasmus, Bradykardie, Magen-Darmbeschwerden, Impotenz
A: AV-Block, Bradykardie, Herzinsuffizienz, Sick-Sinus-Syndrom, Asthma bronchialeR: Diabetes mellitus, orthostatische Dysregulation, Depression
Flunarizin 5 -10 mg H: Müdigkeit, GewichtszunahmeG: Gastrointestinale Beschwerden, Depression

S: Hyperkinesien, Tremor, Parkinsonoid

A: fokale Dystonie, Schwangerschaft, Stillzeit, Depression; vorbestehende Symptome von Morbus Parkinson oder anderen extrapyramidalen Erkrankungen
Topiramat 25-100 mg H: Müdigkeit, kognitive Störungen, Gewichtsabnahme, Parästhesien, Geschmacks-veränderungen, PsychosenS: Engwinkelglaukom A: Niereninsuffizienz, Nierensteine, Engwinkelglaukom
Valproinsäure 500-600 mg H: Müdigkeit, Schwindel, TremorG: Hautausschlag, Haarausfall, Gewichtszunahme,

S: Leberfunktionsstörungen

A: Leberfunktionsstörungen, Schwangerschaft (Neuralrohrdefekte), Alkoholmissbrauch, polyzystische Ovarien
Onabotulinum-
toxin A bei chronischer Migräne
195 Einheiten Muskelschwäche Myasthenie
Nebenwirkungen, gegliedert in
H: Häufig; G: Gelegentlich; S: Sel­ten; Kontraindikationen gegliedert in A: absolut, R: relativ

Tabelle 2:  Substanzen zur Migräneprophylaxe mit geringerer Evidenz

Substanzen(Beispiel) Dosis Nebenwirkungen Kontraindikationen
Amitriptylin 50-150 mg H: Mundtrockenheit, Müdigkeit, Schwindel, SchwitzenG: Blasenstörungen, innere Unruhe,Impotenz A: Engwinkelglaukom, Prostataadenom mit Restharn
Venlafaxinoff-label use 75-150mg H: Müdigkeit, Konzentrationsstörungen,Selten Impotenz, arterielle Hypertonie Schwere Hypertonie
Gabapentin
off-label use
2400 mg H: Müdigkeit, Schwindel,G: Ataxie, gastrointestinale Störungen Schwere Leber- oder Nierenfunktionsstörungen
       
       
Magnesium 2×300 mg = 24 mmol H: Durchfall bei zu rascher Aufdosierung Keine
Vitamin B2 plus Magnesium* 1×400 mg Vitamin B2 plus 2×300 mg Mg H: Durchfall, intensive Gelbfärbung des Urins Keine
Nebenwirkungen:  H: häufig, G: gelegentlich; S: selten, A: absolut, R: relativ; KHK = koronare Herzkrankheit; AVK = arterielle Verschlusskrankheit

Individuelle Auswahl

Die individuelle Auswahl eines Medikaments zur Migräneprophylaxe sollte nicht nach einem vorgegebenen Stufenschema vorgenommen werden. Vielmehr sollte sich die Auswahl an den individuellen Bedürfnissen der Patienten orientieren. Was für den einen gut ist, muss für den anderen noch lange nicht passend sein.

Nachfolgende Liste zeigt individuelle Besonderheiten der Migräneerkankung und die damit zusammenhängende gezielte Auswahl von Wirkstoffen zur Vorbeugung. Diese orientiert sich dabei entweder an der individuellen Symptomkonstellation, oder an den bestehenden Begleiterkrankungen.

Ein bestimmte Medikamentenauswahl bietet sich an bei folgenden Begleitmerkmalen:

Begleitmerkmale

Bevorzugte Auswahl

Migräne + Bluthochdruck

Beta-Blocker

Migräne + Herzgefäßerkrankung

Calcium-Antagonisten

Migräne + Stress

Beta-Blocker, Antidepressiva

Migräne + Depression

Antidepressiva

Migräne + Schlaflosigkeit

Antidepressiva

Migräne + Untergewicht

Antidepressiva, Pizotifen

Migräne + Übergewicht

Topiramat, Lisinopril

Migräne + Epilepsie

Valproinsäure

Migräne + Manie

Valproinsäure

Migräne + Überempfindlichkeit für Nebenwirkungen

Pestwurz

Migräne + Schlaganfall

Acetylsalicylsäure

Migräne + Wadenkrämpfe

Magnesium

Migräne+craniocervikale Dystonie

Botulinum-Toxin

Eine bestimmte Medikamentenauswahl bietet sich bei folgenden Begleitmerkmalen nicht an:

Begleitmerkmalen

Nicht auswählen

Migräne + Epilepsie

Antidepressiva

Migräne + Depression

Beta-Blocker, Topiramat

Migräne + hohes Alter/Herzerkrankungen

Antidepressiva

Migräne + Übergewicht

Antidepressiva, Pizotifen

Migräne + Asthma

Beta-Blocker, Topiramat

Migräne + Untergewicht

Topiramat

Migräne + hohe sportliche Aktivität

Beta-Blocker

Migräne + hohe Konzentration und Denkleistung

Antidepressiva, Beta-Blocker, Topiramat

Migräne + Leberstörung

Valproinsäure

Botulinumtoxin (Botox)

Wirkmechanismen von Botox in der Pathophysiologie der Migräne Gesamtübersicht

Wirkmechanismen von Botulinumtoxin A (Botox) in der Pathophysiologie der Migräne Gesamtübersicht

Das Medikament Botox® (Botulinumtoxin Typ A) hat am 23. September 2011 die Zulassung zur Linderung der Symptome von chronischer Migräne bei Erwachsenen, die unzureichend auf prophylaktische Migränebehandlungen angesprochen haben oder diese nicht vertrugen, vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erhalten. Die Zulassung erfolgte auf Basis des sogenannten Verfahrens der gegenseitigen Anerkennung (Mutual Recognition Procedure) in 14 europäischen Ländern.

Mehr zum wissenschaftlichen und klinischen Hintergrund:
Prophylaxe der chronischen Migräne mit Botulinumtoxin

Seit der zweiten Ausgabe der Internationalen Kopfschmerzklassifikation (ICHD-II 2004) wird die Kopfschmerzentität einer chronische Migräne im Kapitel „Migränekomplikationen“ aufgeführt. Die Prävalenz ist im Vergleich zur episodischen Migräne niedrig, der Leidensdruck jedoch erheblich, da alle Lebensbereiche betroffen sind. Bislang existierte kein für die chronische Migräne spezifisch zugelassenes Prophylaktikum. Es gibt lediglich schwache Hinweise, dass Topiramat wirksam sein kann.

Nachdem in Kasuistiken die Wirkung von Botulinumtoxin Typ A bei Migräne beschrieben wurde, erfolgte zunächst der vergebliche Versuch eines Wirkungsnachweises bei der häufigeren episodischen Migräne. Erst durch das PREEMPT-Studienprogramm mit Botox® in der Behandlung der chronischen Migräne konnte ein Wirknachweis für diese schwer betroffene Subpopulation erbracht werden. Damit steht erstmals eine wirksame und verträgliche Behandlungsoption zur Prophylaxe der chronischen Migräne zur Verfügung, die jedoch in ein therapeutisches Gesamtkonzept eingebunden werden muss. Die Erstzulassung von Botox® für die Indikation „Vorbeugung von Kopfschmerzen bei Erwachsenen mit chronischer Migräne (≥15 Kopfschmerztage, ≥ 8 Tage mit Migräne pro Monat) erfolgte im Jahre 2010 in England und den USA. Botox hat am 23. September 2011 die Zulassung zur Linderung der Symptome von  chronischer Migräne bei Erwachsenen, die unzureichend auf  prophylaktische Migränebehandlungen angesprochen haben oder diese nicht  vertrugen, vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte  (BfArM) erhalten. Die Zulassung erfolgte auf Basis des sogenannten  Verfahrens der gegenseitigen Anerkennung (Mutual Recognition Procedure)  in 14 europäischen Ländern. Die Behandlung der chronischen Migräne (15 Kopfschmerztage im Monat, von denen 8 Kopfschmerztage eindeutig Migräne sein müssen) mit Botox wird auch von den gesetzlichen Kassen übernommen.

Neuromodulation

Für die besonders schwer betroffenen Patienten mit chronischer Migräne und anderen schweren chronischen Schmerzen gibt es nur wenige wirksame Therapieoptionen. Standardtherapieverfahren sind in der Regel ohne nachhaltige Wirksamkeit. In neuester Zeit rücken nun Möglichkeiten der peripheren Nervenstimulation (PNS) als Behandlungsmöglichkeit in den Fokus. Die periphere Nervenstimulation ist eine spezielle Anwendung der Neuromodulation. Diese wird bereits seit mehreren Jahrzehnten zur Linderung von chronischen Schmerzen eingesetzt. Eine erfolgreiche Anwendung ist möglich bei Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Nackenschmerzen, Arm- und Beinschmerzen. Durch den zunehmenden Fortschritt der Mikroelektronik ist es möglich, ein schrittmacherähnliches Gerät unter die Haut zu implantieren und damit eine kontinuierliche Neuromodulation zu ermöglichen. Das Gerät hat etwa die Größe einer Streichholzschachtel.

Zur Behandlung der chronischen Migräne kann ein spezielles wieder aufladbares System implantiert werden, ein Batteriewechsel entfällt damit. Der Stimulator sendet elektrische Signale an den sich direkt unter der Nackenhaut befindlichen Occipitalis-Nerven (ON). Aufgrund dieser besonderen Lokalisation wird die Behandlungsmöglichkeit auch Occipitalis-Nervenstimulation (ONS) genannt. Die Wirkungsweise der Occipitalis-Nervenstimulation wird durch Veränderungen der elektrischen Regulation im Hirnstamm erklärt. Das Muster der Schmerzsignale wird durch die kontinuierliche Stimulation moduliert und überdeckt. Die ständige Überempfindlichkeit im Nervensystem wird ausgeglichen und reduziert. Die Funktion des Neurostimulator-Systems und die periphere Nervenstimulation sind mit denen des Herzschrittmachers zu vergleichen. Es wird angenommen, dass durch die Neuromodulation die körpereigene Schmerzabwehr aktiviert und stabilisiert wird und somit auf natürlichem Wege die Empfindlichkeit für Schmerzsignale reduziert werden kann. Nachfolgend werden die einzelnen Schritte der Implantation des Systems beschrieben.

Für die Entscheidung zur Neuromodulation muss der Patient in einem spezialisierten Migräne- und Kopfschmerzzentrumzentrum versorgt werden. Die spezialisierte Indikationsstellung und weitere fachgerechte Betreuung müssen gewährleistet sein. In unserem Zentrum hat sich in Zusammenarbeit mit den Kliniken für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein der nachfolgend beschriebene Ablauf bewährt.

Die Indikationsstellung  und Information über die Behandlungsmöglichkeiten erfolgen im Migräne- und Kopfschmerzzentrum der Schmerzklinik Kiel. Wir organisieren dann eine ambulante Vorstellung in der Klinik für Neurochirurgie zur Op- und Narkose-Planung. Aufgrund unseres bundesweiten Kopfschmerzbehandlungsnetzes kann die Versorgung ggf. auch in einem anderen kooperierenden und zertifizierten neurochirurgischen Zentrum erfolgen. Weitere Informationen finden sich hier.

Medikamente ohne Wirkung

Viele Substanzen werden immer wieder in den Medien oder in der Fachliteratur hinsichtlich ihrer vorbeugenden Effektivität in der Migränetherapie diskutiert. Für eine Reihe dieser Substanzen liegen Berichte vor, die eine Wirkung wenig wahrscheinlich machen. Wenn Ihnen jemand zur Vorbeugung gegen Ihre Migräne einen der folgenden Stoffe empfiehlt, sollten Sie deshalb besser genauer nachfragen. Dazu gehören insbesondere folgende Wirkstoffe:

  • Bromocriptin (angewendet z.B. zum Abstillen)
  • Carbamazepin (z.B. gegen Epilepsie)
  • Cimeditin (z.B. gegen Magengeschwüre)
  • Clonidin (gegen erhöhten Augeninnendruck)
  • Diphenylhydandoin (z.B. gegen Epilepsie)
  • Diuretika (entwässernde Medikamente, div. Anwendungsgebiete)
  • Gestagene (z.B. bei Zyklusstörungen)
  • Hypotonika (Medikamente zur Erhöhung des Blutdruckes)
  • Indomethacin (z.B. entzündliche Rheumaerkrankungen)
  • Lithium (psychische Erkrankungen)
  • Neuroleptika (z.B. gegen Depressionen)
  • Nifedipin und Nimodipin (Herzbeschwerden)
  • Nootropica (Substanzen zur Verbesserung der Hirndurchblutung)
  • Proxibarbal (z.B. bei Schlafstörungen)
  • Reserpin (z.B. gegen Blutdruck)