CGRP-monoklonale Antikörper: Immuntherapie der Migräne
Erenumab
Erenumab (Aimovig®) ist ein monoklonaler Antikörper, der den CGRP-Rezeptor hemmt. CGRP wird eine wichtige Rolle in der Pathophysiologie der Migräne zugeschrieben. In Migräneattacken finden sich erhöhte CGRP-Spiegel, bei der chronischen Migräne auch zwischen den Anfällen. Durch die intravenöse Gabe von CGRP können bei Migränepatienten migräneartige Kopfschmerzen hervorgerufen werden. Die in der Migräneakuttherapie wirksamen Triptane hemmen die Freisetzung von CGRP. Schließlich konnte mit den sog. Gepanten gezeigt werden, dass durch die Hemmung des CGRP-Rezeptors sowohl akut Migräneattacken unterbrochen werden können als auch bei regelmäßiger Einnahme diesen vorgebeugt werden kann.
Aimovig® wurde im Mai 2018 durch die U.S. Food and Drug Administration (FDA) für die vorbeugende Behandlung von Migräne bei Erwachsenen zugelassen. Die Behandlung wird durch eine Selbstinjektion des Arzneimittels unter die Haut einmal pro Monat durchgeführt. Aimovig ist das erste zugelassene vorbeugende Migränemedikament einer neuen Klasse von Arzneimitteln zur Vorbeugung der Migräne. Sie wirken durch die Hemmung der Aktivität von Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). Das Molekül ist bei der Entstehung von Migräneattacken beteiligt.
Effektivität
In den Zulassungsstudien konnte Erenumab sowohl bei Patienten mit episodischer als auch chronischer Migräne und bisheriger Erfolglosigkeit von maximal zwei (bei episodischer Migräne) bzw. maximal drei (bei chronischer Migräne) Migräneprophylaktika die Zahl der Migränetage im Monat signifikant stärker reduzieren als Placebo. Die 50%-Responderrate war signifikant höher als bei Placebo, die Einnahme von Akutmedikation signifikant niedriger und es resultierte eine bedeutsame Verbesserung der Lebensqualität.
In der STRIVE-Studie (Phase 3) bei episodischer Migräne wurden 70 mg Erenumab und 140 mg Erenumab gegen Placebo getestet. Die 50%-Responderraten (Anzahl der Probanden mit einer Reduktion der Migränetage/Monat um mindestens 50%) lagen bei 43.3% bei 70 mg Erenumab, 50.0% bei 140 mg Erenumab und 26.6% bei Placebo. Der Unterschied zwischen Erenumab 70 und 140 mg war dabei nicht signifikant. Bei chronischer Migräne (Phase 2) wurden ähnliche 50%-Responderraten erreicht: 40% bei 70 mg Erenumab, 41% bei 140 mg Erenumab und 23% bei Placebo.
Da bislang keine Studie gegen eine der Standardsubstanzen zur Migräneprophylaxe durchgeführt wurde, beruht der für die Erstattungsfähigkeit von Erenumab im System der gesetzlichen Krankenversicherung erforderliche Nachweis eines Zusatznutzens auf der LIBERTY-Studie.
Hier wurden Patienten mit einer episodischen Migräne (vier-14 Migränetage/Monat) und einem vorangegangenen Therapieversagen von zwei bis vier Standard-Migräneprophylaktika mit 140 mg Erenumab oder Placebo behandelt. Die Responderrate von 140 mg Erenumab lag bei 30%, die von Placebo bei 14%, der Unterschied war statistisch signifikant. Die Zahl der Migränetage im Monat nahm unter Erenumab um 1,76 Tage (Ausgang 9.3 Tage/Monat) ab, unter Placebo um 0,15 Tage. Auch hier war der Unterschied zwischen Erenumab und Placebo statistisch signifikant.
In einer Analyse zur Wirksamkeit am Kopfschmerzzentrum der Schmerzklinik Kiel wurden zwischen November 2018 bis Dezember 2019 insgesamt 193 Patienten mit Erenumab ausgewertet, die sich bislang als therapierefraktär gegenüber Betarezeptorenblockern (Metoprolol oder Propranolol), Amitriptylin, Topiramat, Flunarizin, Valproat sowie bei chronischer Migräne Onabotulinumtoxin erwiesen hatten oder bei denen eine Kontraindikation den Einsatz ausschloss. Die 50%-Responderrate lag bei den Patienten mit episodischer Migräne (n=48) bei 38%. Für Patienten mit chronischer Migräne (n=145) fand sich eine 50%-Responderrate bei 33% der Patienten. Rund drei Viertel der Patienten hatten dabei eine Dosierung von 140 mg Erenumab erhalten. Die Effektivitätsraten lagen damit insgesamt etwas niedriger als bei den Studienpatienten ohne Mehrfachtherapieversagen, bei der episodischen Migräne jedoch höher als in der Liberty-Studie (38% versus 30%). Die Erfahrungen sprechen dafür, dass die Ergebnisse der kontrollierten Studien auf den klinischen Alltag übertragbar sind. Ca. jeder dritte Betroffene, welcher bislang nur unzureichend prophylaktisch medikamentös behandelt werden konnte, profitiert signifikant.
Anwendung nach Zulassung und nach AMNOG-Verfahren
Erenumab ist zugelassen zur Migräne-Vorbeugung bei Erwachsenen mit mindestens vier Migränetagen pro Monat.
Bei der Verordnung muss auch die Wirtschaftlichkeit berücksichtigt werden. Das Medikament kostet rund 495 Euro pro Monat (Stand März 2021) und ist um ein Vielfaches teuerer als die bisherigen vorbeugenden Medikamente. Die Wirtschaftlichkeit wird im sog. AMNOG-Verfahren geprüft.
AMNOG bedeutet „Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz“ und zielt auf die Preisregulierung innovativer Medikamente in Deutschland. Das Verfahren reguliert seit Januar 2011 die Preise für neue, patentgeschützte Arzneimittel. Grundlage ist die Zusatznutzenbewertung. Das heißt: Krankenkassen zahlen nur den Preis, der den ermittelten zusätzlichen Nutzen des Arzneimittels entspricht. Ziel ist ein Gleichgewicht zwischen Innovation und Bezahlbarkeit.
Das AMNOG-Verfahren zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit eines neuen Therapieverfahrens hat keinen Einfluss auf den Zulassungsstatus eines Medikamentes, wie er in der Fachinformation aufgeführt ist. Aufgrund des Wirtschaftlichkeitsgebotes nach §12 SGB V sollte eine Verordnung nach G-BA-Beschluss jedoch erst dann erfolgen, wenn keine kostengünstigere Alternative mehr zur Verfügung steht. Dies gilt, solange für Erenumab kein Zusatznutzen gegenüber den Standardprophylaktika nachgewiesen ist, der die deutlich höheren Behandlungskosten rechtfertigen würde.
Aufgrund des G-BA-Beschlusses ist damit Erenumab trotz breiter Zulassung faktisch nur unter den Nachfolgend dargestellten Bedingungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu verordnen:
Bedingungen zur Verordnung von CGRP monoklonalen Antikörpern zur Vorbeugung der Migräne zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung
- Alter ≥ 18 Jahre
- Migränehäufigkeit ≥ vier Tage im Monat
- Initiierung der Behandlung durch Ärzte, die mit der Diagnose und Behandlung von Migräne Erfahrung haben.
- Unwirksamkeit, Unverträglichkeit von Metoprolol bzw. Propranolol, Amitriptylin, Topiramat, Flunarizin und Valproat sowie zusätzlich Onabotulinumtoxin bei chronischer Migräne oder die Substanzen sind für den Patienten kontraindiziert
Die 4. Bedingung bedeutet eine deutliche Einschränkung, die wirtschaftlich begründet ist. Im Gegenzug wurde im AMNOG-Verfahren für Erenumab der Status einer bundesweiten Praxisbesonderheit eingeführt. Sind die genannten vier Bedingungen erfüllt, wird ab dem 15.12.2019 das Arzneimittelgarantievolumen der Verordnenden um die Kosten des Erenumab bereinigt. Dies erfolgt je nach Kassenärztlicher Vereinigung im Vorwegabzug oder nachträglich.
Der Wirkeintritt des Erenumab zeichnet sich in der Regel in den ersten vier Wochen ab, zumindest aber innerhalb von drei Monaten. Sollte es nach dreimonatiger Behandlung noch zu keinem Ansprechen auf die Behandlung gekommen sein, ist eine Folgeverordnung nicht mehr von der Praxisbesonderheit erfasst und die Behandlung sollte beendet werden. Es liegt demnach in der Verpflichtung der Verordnenden, das Ansprechen des Patienten sorgfältig und kontinuierlich quantitativ zu dokumentieren.
Wann von einem Ansprechen auf die Therapie ausgegangen werden kann, ist dabei im AMNOG-Verfahren nicht definiert vorgegeben. Sachlich begründet wäre, analog zu den Wirksamkeitsparametern in den Zulassungsstudien, die 50%-Responderrate heranzuziehen. Ein Ansprechen wäre dann individuell belegt, wenn mindestens eine Halbierung der Migränetage im Monat erreicht wird.
Zusätzlich wurde im AMNOG-Verfahren festgelegt, dass anders als in der Fachinformation vorgeschrieben, nicht nur die Initiierung, sondern auch die Überwachung der Behandlung mit Erenumab durch Ärzte erfolgen soll, die mit der Diagnose und Behandlung von Migräne Erfahrung haben.
Die Fachinformation listet als in den Studien erfasste Nebenwirkungen Reaktionen an der Injektionsstelle (5.6% bei 70 mg Erenumab bzw. 4.5% bei 140 mg Erenumab), Obstipation (1.3% bzw. 3.2%), Muskelspasmen (0.7% bzw. 2.0%) und Pruritus (1.0% bzw. 1.8%) auf. Die meisten dieser Nebenwirkungen waren von leichtem oder mittlerem Schweregrad. Weniger als 2% der Patienten in den Studien brachen die Teilnahme aufgrund unerwünschter Ereignisse ab. Die Verträglichkeit von Erenumab bei der untersuchten Patientenpopulation ist damit als sehr gut zu bezeichnen.
Einzige Gegenanzeige ist laut Fachinformation (Stand August 2018) eine Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff Erenumab oder einen der sonstigen Bestandteile. Im Abschnitt „Besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung“ findet sich jedoch der Hinweis, dass Patienten mit bestimmten schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen von der Teilnahme an den klinischen Studien ausgeschlossen waren. Es liegen für diese Patienten keine Sicherheitsdaten vor. Zum jetzigen Zeitpunkt sollte der Einsatz von Erenumab bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen mit erhöhter Vorsicht erfolgen.
Aufgrund der biologischen Wirkung von CGRP ist vom Einsatz von monoklonalen Antikörpern zur Migräneprophylaxe bei folgenden Bedingungen abzuraten:
- Schwangerschaft
- Stillzeit
- Unzureichender/fehlender Kontrazeption
- koronarer Herzerkrankung
- Schlaganfall
- Hirnblutung
- peripherer arterieller Verschlusskrankheit
- entzündlichen Darmerkrankungen
- COPD
- pulmonale Hypertension
- M. Raynaud
- Wundheilungsstörungen
- Transplantationsempfänger
Grundsätzlich sollten, da die vorliegenden Studien bislang ausschließlich Patienten ohne relevante Vorerkrankungen eingeschlossen hatten, bei Patienten mit chronischen Begleiterkrankungen entsprechend zurückhaltend vorgegangen werden.
Dosierung
Erenumab steht derzeit in Deutschland als Autoinjektor zu 70 mg und 140 mg zur Verfügung. Der Preis beider Dosierungen ist identisch. In den Studien, in denen die 70 mg und die 140 mg Dosis direkt miteinander verglichen wurden, zeigte sich kein signifikanter Wirksamkeitsunterschied. Lediglich die Häufigkeit der Nebenwirkung Obstipation nahm mit der höheren Dosis zu. Allerdings wurde in der LIBERTY-Studie bei Patienten mit episodischer Migräne und Mehrfachtherapieversagen der Standardprophylaktika ausschließlich die 140 mg Dosis gegen Placebo getestet. In der Fachinformation wird darüber hinaus darauf hingewiesen, dass die Patienten in der Studie bei chronischer Migräne, die bereits zwei oder drei Vortherapien abgebrochen hatten, von der 140 mg Dosis häufiger profitiert hätten. Die empfohlene Dosis beträgt laut Fachinformation daher zwar 70 mg Erenumab alle vier Wochen. Manche Patienten könnten jedoch von einer Dosis von 140 mg alle vier Wochen profitieren. Bei unzureichender Wirkung und ausreichender Verträglichkeit kann eine Dosiserhöhung auf 140 mg erörtert werden.
Dauer der Behandlung
Folgt man der Fachinformation, sollte eine Einstellung der Behandlung mit Erenumab nach drei Monaten erwogen werden, wenn sich bis dahin kein ausreichendes Ansprechen gezeigt hat.
Bei der Mehrheit der Patienten, die auf die Therapie angesprochen haben, ist ein klinischer Nutzen innerhalb von drei Monaten aufgetreten. Zur Beurteilung des Ansprechens hat sich das Führen einer digitalen Kopfschmerzdokumentation vorteilhaft gezeigt. Für die klinische Versorgung hat sich dazu die Migräne-App für iOS oder Android bewährt, die eine direkte quantitative Analyse des Verlaufes zur Verfügung stellt und gleichzeitig umfangreiche Informationen und nichtmedikamentöse Therapieoptionen zur Verfügung stellt.
Ziel der Behandlung
Eine operationale Definition des Zielparameters „Ansprechen“ erfolgt in der Fachinformation nicht. Offen ist auch, wann eine eventuelle Dosiserhöhung von 70 auf 140 mg erfolgen sollte. In den Studien wurde als Maß für die Wirksamkeit eine Reduktion der Migränetage im Monat um 50% gewählt. Diese Vorgabe eignet sich auch im klinischen Alltag bei der Behandlung einer episodischen Migräne. Liegt jedoch eine chronische Migräne bei sonst therapierefraktären Verläufen vor, dürfte eine Reduktion der Migränetage um 30% im Monat als klinisch relevantes Ansprechen angesehen werden. Für einen Patienten bedeutet jedoch auch eine Abnahme der Schmerzintensität der Migräne eine wesentliche Verbesserung. Sollte zwar die Häufigkeit der Migräne sich nicht wesentlich verringern, aber die Einnahme von Schmerzmitteln und/oder Triptanen um 50% bei der episodischen bzw. 30% bei der chronischen Migräne abnehmen, so ist aus klinischer Sicht von einem Ansprechen auf die Behandlung auszugehen.
Wirkeintritt
Ein wesentlicher Unterschied von Erenumab zu den oralen Standardprophylaktika ist der schnelle Wirkeintritt. Die Studiendaten zeigen einen signifikanten Effekt bereits nach einem Monat. Umgekehrt kommt es nach den ersten beiden Monaten auch nicht mehr zu einer wesentlichen weiteren Besserung, der erreichte Effekt bleibt stabil. Eine Behandlung sollte nicht länger als insgesamt drei Monate fortgeführt werden, wenn die genannten Wirksamkeitsziele nicht erreicht wurden. Das würde dann eine maximale Einnahmedauer des Erenumabs von drei Monaten bei Unwirksamkeit bedeuten.
Überprüfung der Notwendigkeit bei Dauerbehandlung
Die Fachinformation empfiehlt weiterhin, auch nach den ersten drei Monaten der Behandlung in regelmäßigen Abständen zu bewerten, ob die Behandlung fortzusetzen ist. Das bedeutet, dass eine anhaltende Wirksamkeit, die allein zur Weiterführung der Behandlung berechtigt, auch dokumentiert werden muss. Am einfachsten durch die Migräne-App, die die Wirksamkeitsdaten im zeitlichen Verlauf aggregiert und objektiv zur Verfügung stellt. In den Erenumab-Studien wurde den Patienten im Anschluss an die doppelblinden Studienphasen eine Weiterbehandlung mit Erenumab in offenen Studienverlängerungsphasen angeboten. Die hierdurch gewonnen Langzeitdaten über mittlerweile fünf Jahre belegen eine anhaltend gute Wirksamkeit und Verträglichkeit von Erenumab. Nicht erhoben wurden bedauerlicherweise jedoch Daten zum Spontanverlauf der Migräne nach Absetzen von Erenumab. Zum jetzigen Zeitpunkt ist damit unklar, wie lange eine erfolgreiche Behandlung mit Erenumab fortgeführt werden sollte.
Die Fachinformation sieht keine zeitliche Begrenzung einer wirksamen Therapie mit einem monoklonalen Antikörper zur Migräneprophylaxe vor. Gleiches gilt für die Regelung der bundesweiten Praxisbesonderheit. Beendet werden sollte danach nur eine Therapie nach spätestens drei Monaten, wenn eine ausreichende Ansprechbarkeit nicht dokumentiert ist.
Im Gegensatz dazu schlägt das Addendum zur Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie explizit vor: Bei Wirksamkeit der Therapie sollte nach sechs bis neun Monaten ein Auslassversuch unternommen werden, um zu überprüfen, ob die Therapie noch notwendig ist.
Dies geht sogar über die generelle Empfehlung zum Einsatz von Migräneprophylaktika hinaus, in denen es heißt, eine erfolgreiche Migräneprophylaxe sollte nach sechs bis 12 Monaten durch Dosisreduktion oder Absetzen auf ihre Notwendigkeit überprüft werden. Als Begründung wird angegeben, dass in den Antikörperstudien, in denen die Wirksamkeit nach Absetzen der Behandlung weiter erfasst wurde, zwar nach fünf bis 20 Wochen wieder eine Verschlechterung eingetreten sei, die Ausgangswerte aber noch nicht wieder erreicht worden seien.
Eine Unterbrechung einer wirksamen Behandlung mit einem monoklonalen Antikörper zur Migräneprophylaxe nach einem bestimmten Zeitpunkt ist damit formal laut Fachinformation/Praxisbesonderheitsregelung nicht zwingend erforderlich, sondern lediglich ein Leitlinienvorschlag. Für eine Unterbrechung sprechen neben generellen Wirtschaftlichkeitsgründen auch medizinische Gründe. Zusätzlich zur Frage, warum eine möglicherweise nicht mehr erforderliche Behandlung weitergeführt werden sollte, ist es auch berechtigt zu fragen, warum eine möglicherweise nicht mehr erforderliche Behandlung weitergeführt werden sollte, deren Langzeitfolgen für die Gesundheit noch nicht absehbar sind. Kommt es nach Absetzen und einer Einnahmepause zu einer Verschlechterung der Migräne, kann die Behandlung problemlos wieder aufgenommen werden. Ob und ggf. wann man den Auslassversuch vornimmt – nach sechs, neun oder 12 Monaten – bleibt zum jetzigen Zeitpunkt allerdings im Ermessen der Verordnenden.
Erenumab: Praktische Anwendung
Laut Fachinformation sollte die Initiierung der Behandlung durch Ärzte mit Erfahrung in der Migräne-Diagnose und -Behandlung erfolgen. Zwingend notwendig ist (s. oben) die regelmäßige Verlaufskontrolle zur Entscheidung über die Fortsetzung der Behandlung. Dafür empfiehlt sich der Einsatz der Migräne-App. Die App unterstützt u.a. dabei, individuelle Regeln in der Kopfschmerzbehandlung einzuhalten, Komplikationen wie den Medikamentenübergebrauchskopfschmerz zu vermeiden und stellt nicht-medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten wie z.B. die progressiven Muskelentspannung zur Verfügung.
Etwa 50% der Patienten mit mehr als 15 Kopfschmerztagen pro Monat seit mindestens drei Monaten haben neben der ursprünglichen primären Kopfschmerzform als weiteren ursächlichen Grund für die zunehmende Häufung der Kopfschmerztage, einen Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MÜK). Die meisten Betroffenen zeigen im Gegensatz zur Ausgangssituation nach einer Medikamentenpause eine Reduktion der Kopfschmerztage pro Monat und ein erneutes Ansprechen auf vorbeugende sowie Akutmedikation. Die Beratung dazu, das Wissen um den Zusammenhang und die Konsequenzen des Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes (MÜK) sind daher essentiell. Patienten mit Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MÜK) sollten vor Einleitung einer Behandlung mit Erenumab eine adäquate Medikamentenpause durchführen und zum Einhalten der 10-20-Regel angehalten werden: Schmerzmittel und spezifische Migränemittel sollten an weniger als 10 Tagen pro Monat verwendet werden, mindestens 20 Tage im Monat sollten komplett frei von deren Einnahme sein.
Die Injektionen erfolgen mit Hilfe eines Autoinjektors im Abstand von vier Wochen. Vielen Migränepatienten ist der Umgang mit diesem Autoinjektor vertraut, da ein nahezu identischer Pen auch zur subkutanen Applikation von Sumatriptan s.c. verwendet wird. Im Unterschied dazu wird der Pen nicht in der Attacke bei Bedarf eingesetzt. Die Anwendung erfolgt vielmehr in festen Zeitabständen von vier Wochen (d.h. 28 Tagen) zur Vorbeugung nach definiertem Behandlungsplan. Bei dieser Immuntherapie handelt es sich um eine passive Immunisierung. Die Antikörper werden nicht selbst im menschlichen Körper gebildet, sondern im Labor als ein vollständig humaner monoklonaler lgG2-Antikörper in Ovarialzellen chinesischer Hamster (CHO) mit Hilfe rekombinanter DNA-Technologie hergestellt. Aus diesem Grund muss die Gabe regelmäßig wiederholt werden. Immuntherapie oder passive „Impfung“ bedeutet nicht, dass die Erkrankung nicht mehr auftritt. Es wird das Risiko für zukünftige Attacken gesenkt. Während des Dosierungszeitraums wird Erenumab vorwiegend über einen unspezifischen eiweißabbauenden Weg eliminiert und hat eine Eliminationshalbwertszeit von ca. 28 Tagen.
Erenumab wird subkutan durch die Patienten selbst angewendet. Die Injektion kann am Bauch, am Oberschenkel oder an der Außenseite des Oberarms verabreicht werden. Bei jeder Folge-Injektion sollte eine andere Injektionsstelle verwendet werden. Injektionen dürfen nicht in empfindliche, verletzte, gerötete oder verhärtete Hautpartien gegeben werden. Der Autoinjektor ist für den einmaligen Gebrauch einzusetzen. Aus Vorsichtsgründen soll eine Anwendung von Erenumab während der Schwangerschaft vermieden werden. Auf eine ausreichende Schwangerschaftsverhütung ist daher zu achten.
Das Arzneimittel ist im Kühlschrank bei 2-8 Grad Celsius zu lagern und nicht einzufrieren. Der Autoinjektor soll im Umkarton lichtgeschützt aufbewahrt werden. Wird das Arzneimittel bei Raumtemperatur bis zu 25 Grad Celsius gelagert, muss es innerhalb von 14 Tagen angewendet oder entsorgt werden. Vor der Anwendung sollte die Lösung visuell überprüft werden. Enthält sie Trübungen, Flocken, Partikel oder eine Gelbfärbung, darf sie nicht verwendet werden. Zur Vermeidung von Beschwerden an der Injektionsstelle sollte der Autoinjektor vor der Injektion aus der Kühlung entnommen und mindestens 30 Minuten bei Raumtemperatur unter Vermeidung von Schütteln und direkter Sonneneinstrahlung oder anderer Wärmequellen aufbewahrt werden.
Eine langsame Aufdosierung wegen eventueller Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen ist nicht erforderlich. Der Wirkeintritt ist bei Ansprechen schnell initial innerhalb von wenigen Tagen zu erwarten. Nebenwirkungen der bisherigen migränevorbeugenden Mittel wie z.B. Gewichtszunahme, Stimmungsveränderungen, Müdigkeit, Antriebsreduktion oder Benommenheit sind nicht zu erwarten. Die bisher verfügbaren Daten zeigen jedoch, dass man nicht davon ausgehen darf, dass mit dem neuen Wirkprinzip die Migräne aufhört und man leben kann, wie man will. Rund 70% der Patienten mit episodischer Migräne mit bisher erfolglosen anderen Therapieversuchen werden wahrscheinlich auch auf den neuen Wirkmechanismus nicht ansprechen. Wer zu den 30% Respondern gehört, kann bislang nicht vorhergesagt werden.
Fremanezumab
Der monoklonale Antikörper gegen CGRP, Fremanezumab (Ajovy®) wurde am 31. Januar 2019 ebenfalls vom Humanarzneimittelausschuss der EMA zur Zulassung empfohlen und im April 2019 von der Europäischen Kommission zugelassen.
Ajovy® unterscheidet sich u.a. von Aimovig® und Emgality® durch das Anwendungsintervall: Es steht zusätzlich zur monatlichen eine vierteljährliche Anwendung zur Verfügung.
Fremanezumab wurde an insgesamt 2.000 Patienten in Zulassungsstudien untersucht. In der Phase-III-Studie Halo EM wurden Patienten mit episodischer Migräne und in der Phase-III-Studie Halo CM wurden Patienten mit chronischer Migräne untersucht. Die Studie Halo CM verglich an 1.130 Patienten die Wirksamkeit von 225 mg Fremanezumab in monatlicher Dosierung sowie 675 mg Fremanezumab in vierteljährlicher Dosierung im Vergleich zu einer Placebo-Anwendung. Im Durchschnitt litten die Patienten an 13,2 Tagen pro Monat an Migräne (Gruppe mit monatlicher Fremanezumab-Anwendung) bzw. an 12,8 Tagen pro Monat (vierteljährliche Fremanezumab-Gabe) bzw. 13,3 Migränetagen pro Monat (Placebogruppe). In der Gruppe der Patienten mit vierteljährlicher Fremanezumab-Gabe wurden eingangs 675 mg Fremanezumab subkutan gegeben. Nach einem Zeitraum von 4 und 8 Wochen wurden Placebogaben eingesetzt. Patienten, die monatlich Fremanezumab erhielten, wurden mit einer Startdosis von 675 mg Fremanezumab behandelt. Anschließend erhielten sie jeweils 225 mg Fremanezumab in der Woche vier und der Woche acht. Als Hauptzielparameter war die Reduktion der durchschnittlichen Kopfschmerztage pro Monat herangezogen worden. Ein Kopfschmerztag war durch mindestens vier Stunden Beschwerden pro Tag oder die Anwendung von migränespezifischen Akutmedikamenten am Tag definiert.
- Die deutlichste Reduktion konnte in der Gruppe mit monatlicher Gabe beobachtet werden. In dieser Gruppe wiesen die Patienten im Durchschnitt 4,6 Tage weniger Migräne pro Monat auf. 41% der Patienten erzielten bei dieser Applikationsweise eine Halbierung der Kopfschmerztage pro Monat.
- Wurde Fremanezumab im Abstand von drei Monaten verabreicht, konnte eine Verbesserung der monatlichen Migränetage um 4,3 Tage beobachtet werden. In dieser Gruppe erreichten 38% der Patienten eine Reduktion der Kopfschmerztage um 50%.
- Im Vergleich dazu konnte in der Placebogruppe eine Reduktion der Kopfschmerztage pro Monat nur um 2,5 Tage aufgedeckt werden. 18% in der Placebogruppe zeigten eine Halbierung der Kopfschmerztage pro Monat.
Der Zulassungstext sieht die Anwendung von Fremanezumab (wie auch bei Erenumab und Galcanezumab) bei erwachsenen Patienten vor, die an mindestens vier Tagen pro Monat an Migräne leiden.
Fremanezumab ist der bisher einzige verfügbare Antikörper, bei dem auch bei vierteljährlicher Anwendung mit 675 mg in der dreifachen Monatsdosis von jeweils 225 mg eine signifikante Wirksamkeit nachgewiesen ist
Die Antikörper sind sowohl für die vorbeugende Behandlung von episodischer als auch chronischer Migräne zugelassen. Fremanezumab ist der bisher einzige verfügbare Antikörper, bei dem auch bei vierteljährlicher Anwendung mit 675 mg in der dreifachen Monatsdosis von jeweils 225 mg eine signifikante Wirksamkeit nachgewiesen ist. Aktuell ist noch keine spezielle Dreimonatsspritze verfügbar, mit der Patienten mit nur einer einzigen Anwendung die entsprechende Dosis von 675 mg einsetzen können. Daher müssen aktuell Patienten auch bei dreimonatiger Anwendung drei Injektionen, wenn auch zu einem einzigen Zeitpunkt, einsetzen.
Als häufigste unerwünschte Nebenwirkung traten Schmerzen an der Injektionsstelle auf. Diese unterschieden sich nicht bedeutsam zwischen der Gruppe, die mit Fremanezumab oder Placebo behandelt wurde.
Bei der Anwendung zur Vorbeugung der Migräne müssen einige grundsätzlichen Besonderheiten erwogen werden:
- Monoklonale Antikörper sind teure Medikamente. Aktuell gibt es noch keine Vergleichsstudien zu den bisherigen leitliniengerechten vorbeugenden Migränemedikamenten. Vergleicht man die Wirksamkeitsdaten zu den bisherigen Wirkstoffen, zeigen die Mittelwerte keine besondere Überlegenheit bezüglich der Wirksamkeit. Der besondere Zusatznutzen liegt in der Tatsache, dass Patienten, die auf die bisherigen verfügbaren Arzneimittel nicht ansprachen, bei denen Gegenanzeigen bestanden oder diese nicht vertragen haben, eine Wirksamkeit mit den monoklonalen Antikörpern dennoch erreicht werden kann. Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit werden daher die neuen Behandlungsoptionen bei den Patienten einzusetzen sein, für die die bisherigen leitliniengerechten Migräneprophylaktika nicht hilfreich waren.
- Der monoklonale Antikörper muss mit einem Autoinjektor als Injektion unter die Haut verabreicht werden.
- Der monoklonale Antikörper hat eine sehr lange Wirkdauer mit einer Halbwertzeit von ca. vier Wochen. Dies bedeutet, dass nach einem Monat noch ca. 50% des Wirkstoffes im Blutkreislauf zirkuliert und aktiv ist. Da es sich um eine sehr neue Medikamentenklasse handelt, können zudem Langzeiteffekte bei längerer Anwendung bisher noch nicht sicher eingeschätzt werden.
- Die Immuntherapie zur vorbeugenden Behandlung der Migräne ist keine „finale Heilung“ der Migräne. Nur etwa 30% der Patienten, die bisher nicht ausreichend auf frühere vorbeugende Behandlungsmaßnahmen angesprochen haben, können eine Reduktion der Migräneattacken um 50% oder mehr erwarten. Bei 70% der behandelten Patienten wird dieser Effekt nicht wahrscheinlich sein. Bei einem Großteil der Patienten, die diese Effektivität erreichen, werden dennoch weiterhin Migräneattacken auftreten, die mit Akutmedikamenten behandelt werden müssen.
Galcanezumab
Nach Erenumab (Aimovig®) am 1. November 2018 wurde der monoklonale Antikörper Galcanezumab (Emgality®) zur Migräneprophylaxe ab 1. April 2019 auch in Deutschland verfügbar. In der EU ist Galcanezumab bereits seit November 2018 zugelassen. Zulassung zur Vorbeugung der Migräne von Erwachsenen, die an mindestens vier Tagen im Monat an Migräneattacken leiden. Galcanezumab ist für die Vorbeugung der Migräne von Erwachsenen zugelassen, die an mindestens vier Tagen im Monat an Migräneattacken leiden.
Galcanezumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper. Im Gegensatz zu Erenumab wirken Galcanezumab und Fremanezumab nicht indirekt durch Hemmung des CGRP-Rezeptors. Sie neutralisieren den Botenstoff CGRP direkt.
Zu Beginn der Behandlung wird eine sogenannte Aufladedosierung („Loading-Dose“) von 240 mg verabreicht. Anschließend erfolgt im Abstand von einem Monat eine weitere Injektion von jeweils 120 mg.
Ähnlich wie Erenumab wird Galcanezumab durch eine subkutane Injektion mit einem Autoinjektor von den Patienten selbst verabreicht. Initial wird eine sogenannte Aufladedosierung („Loading-Dose“) von 240 mg verabreicht. Anschließend erfolgt im Abstand von einem Monat eine weitere Injektion von jeweils 120 mg.
Galcanezumab wurde in drei großen Phase-3-Studien untersucht, Evolve 1, Evolve 2 und Regain.
Hauptergebnis in der Studie Evolve 1 mit 858 Patienten war, dass 62,3% der Patienten ihre monatlichen Kopfschmerztage um mindestens 50% halbieren konnten. Unter der Gabe von einem Placebo (Scheinpräparat) wurde dieser Effekt bei 38,6% der Patienten erreicht.
In Evolve 2 zeigte sich bei Einschluss von 915 Patienten, dass 59,3% der mit Galcanezumab behandelten Patienten ihre monatlichen Kopfschmerztage unter Galcanezumab halbierten. Die Gabe von Placebo bewirkte bei 36% eine Halbierung der Kopfschmerztage pro Monat. Im Mittel zeigten die Patienten bei Gabe von 120 mg Galcanezumab 4,3 Migränetage pro Monat weniger, bei Gabe von Placebo zeigte sich eine Reduktion von 2,3 Tagen pro Monat weniger. Der Ausgangswert in der Gruppe, die mit Galcanezumab behandelt wurden, waren 9,1 Migränetage pro Monat vorhanden und in der Placebogruppe 9,2 Migränetage pro Monat.
In der Regain-Studie wurden Patienten mit chronischer Migräne untersucht. Es zeigte sich dabei eine Reduktion der monatlichen Kopfschmerztage unter Galcanezumab von ausgehend 19,4 Tagen um 4,8 Tage. Bei der Behandlung mit Placebo zeigte sich ausgehend von 19,6 Tagen vor Beginn der Behandlung eine Reduktion der Kopfschmerztage pro Monat um 2,7 Tage.
Die Verträglichkeit von Galcanezumab war ähnlich wie die Verträglichkeit von Placebo.
Das Medikament Emgality® wird als Fertig-Pen zur Verfügung gestellt. Die Packungsgrößen enthalten jeweils zwei oder drei Autoinjektoren. Die Patienten können mit diesem Autoinjektor das Medikament eigenständig unter die Haut injizieren. Das Medikament kann unter die Haut am Bauch, Oberschenkel, am Oberarm oder im Gesäßbereich verabreicht werden.
Das für den klinischen Einsatz wichtige AMNOG-Verfahren für die im Laufe des Jahres 2019 zugelassenen monoklonalen Antikörper Galcanezumab (Emgality®) und Fremanezumab (Ajovy®) waren zum Abschluss des Manuskriptes noch nicht abgeschlossen.
Auf der Basis der positiven Nutzenbewertung wurde auch für Emgality® eine bundesweite Praxisbesonderheit vereinbart. Diese bundesweite Praxisbesonderheit gilt ab dem 01. April 2020, jedoch nur für die Patientengruppe, für die der beträchtliche Zusatznutzen beschlossen wurde.
Der G-BA hatte am 19. September 2019 für Emgality® einen beträchtlichen Zusatznutzen festgestellt. Dieser gilt für Patienten, die auf keine der folgenden Therapien bzw. Wirkstoffklassen ansprechen, die für diese nicht geeignet sind oder die diese nicht vertragen: Metoprolol/Propranolol, Flunarizin, Topiramat, Amitriptylin, Valproinsäure, Clostridium botulinum Toxin Typ A (bei chronischer Migräne).
CGRP-monoklonale Antikörper: Möglichkeiten und Grenzen
Wo liegt der Zusatznutzen im Vergleich zu den bisherigen Therapien?
Ob ein neues Medikament besser als die bisherigen ist, zeigt sich im Vergleich der Wirksamkeit, der Verträglichkeit und der Sicherheit. Zum Vergleich der Wirksamkeit von Medikamenten zur Migräne-Prophylaxe wird in Studien meist die Reduktion der Migränetage pro Monat herangezogen. Vergleicht man die Mittelwerte von verschiedenen Wirkstoffen mit der Gabe eines Placebos, zeigt sich jedoch nur eine Reduktion von ein bis vier Tagen pro Monat. Das klingt zunächst ernüchternd – insbesondere für Patienten, die 15 oder mehr Migränetage pro Monat aufweisen. Es handelt sich dabei jedoch um Mittelwerte, die allein dazu dienen, die statistische Überlegenheit einer Substanz gegenüber einem Placebo zu untersuchen. In die Berechnung gehen sowohl Patienten ein, die sehr gut auf die Behandlung ansprechen als aber auch andere, bei denen sie gar nicht wirkt. Studien zur Wirksamkeit der CGRP-Antikörper zeigen nun eine ähnliche Effektivität wie die bisherigen für die Migränevorbeugung zugelassenen Wirkstoffe. Die Reduktion der Migränetage pro Monat beträgt hier ca. ein bis drei Migränetage. Im Mittel zeigen die CGRP-Antikörper damit also keine bessere Wirksamkeit als die bisherigen zugelassenen Medikamente. Daher besteht bezüglich der Wirksamkeit kein belegter Zusatznutzen für Patienten, die bereits auf die bisherigen Prophylaktika ansprechen. Das hat auch der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) so festgestellt. Anders ist es jedoch, wenn Patienten auf die bisherigen Medikamente nicht ansprechen, diese nicht vertragen oder Kontraindikationen bestehen. Das bedeutet, dass Medikamente zum Beispiel aufgrund anderer Krankheiten nicht eingenommen werden dürfen.
Wie wirken die CGRP-Antikörper bei diesen Patienten?
In dieser Situation können CGRP-Antikörper bei etwa einem Drittel der Patienten eine Wirkung zeigen. Der G-BA hat entsprechend einen beträchtlichen Zusatznutzen für CGRP-Antikörper bei erwachsenen Patienten mit monatlich mindestens vier Migränetagen festgestellt, bei denen die Standardprophylaktika unwirksam, unverträglich oder kontraindiziert waren. Die CGRP-Antikörper weisen dazu weitere Besonderheiten auf: Eine langsame Eindosierung ist nicht erforderlich. So ist eine schnelle Wirkung zu erwarten – das ist für viele Patienten wichtig und fördert die Therapietreue.
Welche Patienten dieser Gruppe, bei denen die bisherigen Medikamente nicht geholfen haben, sprechen auf die neuen Antikörper an?
Es ist individuell nicht vorauszusagen, welche der Patienten auf die Behandlung ansprechen, bei denen vorher die Standardprophylaktika unwirksam, unverträglich oder kontraindiziert waren. Jeder dieser Patienten hat die gleiche ca. 30%ige Chance, dass sich die Migränetage reduzieren. Das bedeutet aber gleichzeitig auch, dass die Antikörper bei rund 70% der Patienten nicht ansprechen. Daher ist es notwendig, den Therapieerfolg engmaschig zu kontrollieren. Wird nach drei Monaten keine signifikante Wirkung erzielt, sollte die Therapie nicht weitergeführt werden. Zur Therapie- und Verlaufskontrolle können auch digitale Versorgungsanwendungen wie die Migräne-App eingesetzt werden.
Ist denn ein Wechsel zwischen den CGRP-Antikörper sinnvoll, wenn der erste keine Wirksamkeit gezeigt hat?
Bisher liegen keine kontrollierten Studien vor, die belegen, dass ein Wechsel erfolgreich sein kann, wenn ein anderer Antikörper nicht gewirkt hat. In ihrer Wirksamkeit gegenüber Placebos unterscheiden sich die drei Antikörper praktisch nicht relevant, direkte Vergleiche fehlen noch.
Wie ist die Verträglichkeit im klinischen Alltag?
Häufige Nebenwirkungen sind Überempfindlichkeitsreaktionen wie Ausschlag, Schwellungen und Ödeme im Bereich der Injektionsstelle, Juckreiz oder auch Muskelkrämpfe. Dagegen treten Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Stimmungsänderung, Müdigkeit, kognitive Defizite oder Schwindel bei der Anwendung von CGRP-Antikörpern in der Regel nicht auf. Nach jetzigem Wissensstand sind sie gut verträglich.
Können Patienten die Migräne mit den neuen Medikamenten vollständig loswerden?
Viele Patienten erhoffen sich, dass sie mit einer spezifischen Behandlung die Migräne ein für alle Male beenden und danach leben können, wie sie möchten. Dies ist jedoch eine Illusion – das zeigen die Zahlen, die ich beschrieben habe. Die Behandlungen helfen, einen Teil der Attacken zu reduzieren. Die Antikörper können allenfalls einen Effekt auf die Mechanismen haben, die eine Migräne auslösen. Für Betroffene ist es essenziell, dass sie ihr Leben an die besondere Risikobereitschaft für Migräneattacken anpassen. Auch bei dem Einsatz von Antikörpern sind daher ein umfangreiches Wissen über das Krankheitsbild und eine spezifische Vorbeugung durch eine angepasste Lebensweise wesentlich.
Wirken die CGRP-Antikörper auch bei anderen Kopfschmerzformen?
In der EU sind die CGRP-Antikörper bisher ausschließlich für die vorbeugende Behandlung der Migräne zugelassen. Für den Antikörper Galcanezumab ist auch eine Wirkung zur Vorbeugung von episodischen Clusterkopfschmerz belegt – er ist dafür in den USA bereits zugelassen. Die europäische Zulassungsbehörde hat die Zulassung für diese Anwendung nicht in Aussicht gestellt. Für den Einsatz bei Kopfschmerzen durch Medikamentenübergebrauch gibt es keine Zulassung. Bevor Antikörper eingesetzt werden, sollte diese Form des Kopfschmerzes deshalb durch eine Medikamentenpause behandelt werden.
Können die CGRP-Antikörper auch bei Kindern eingesetzt werden?
Bisher liegen keine kontrollierten Studiendaten für Kinder und Jugendliche vor. Entsprechende Studien werden aktuell durchgeführt. Es bleibt abzuwarten, ob Antikörper auch für diese jungen Patienten wirksam sind.
Wie lange müssen Patienten die CGRP-Antikörper anwenden? Ein Leben lang, oder kann man sie irgendwann absetzen?
Es gibt verschiedene Zielparameter für eine erfolgreiche Therapie, eine Spezifizierung wird in der DGN-Leitlinie (Deutsche Gesellschaft für Neurologie) vorgenommen. Ein Therapieerfolg ist demnach dann gegeben, wenn eine Reduzierung der durchschnittlichen Zahl der monatlichen Kopfschmerztage um mindestens 50 Prozent im Vergleich zur Vorbehandlung über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten besteht oder es zu einer signifikanten Verbesserung der Kopfschmerzsymptomatik kommt. Erreicht ein Patient diese Wirksamkeitsparameter, kann er nach etwa neun bis zwölf Monaten ein Auslassversuch unternehmen, um zu überprüfen, ob die Therapie noch notwendig ist. Dieses Vorgehen wird in der DGN-Leitlinien vorgeschlagen. Es ist jedoch weder durch die Fachinformation, noch den G-BA-Beschluss oder die Regeln zur bundesweiten Praxisbesonderheit vorgegeben.